1. Juli 2017

Kärntner Rezept gegen Polypharmazie

Das Polypharmazieboard im LKH Villach wirkt. Das bestätigt auch der Projektpartner KGKK. Die Patienten brauchen um ein Fünftel weniger Medikamente. Nun ist eine Ausweitung auf Klagenfurt geplant. (Medical Tribune 26/2017)

Das Interdisziplinäre Polypharmazieboard in Villach kann auch einen ökonomischen Nutzen in Form von deutlich reduzierten Kosten nachweisen.
Das Interdisziplinäre Polypharmazieboard in Villach kann auch einen ökonomischen Nutzen in Form von deutlich reduzierten Kosten nachweisen.

Arzneimittelsicherheit steht auf Kongressen vermehrt im Fokus. Vergangenes Wochenende befasste sich die Sommerakademie der Apotheker in Pörtschach am Wörthersee damit, Ende April die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP). Deren Präsidentin, Prim. Dr. Christa Radoš, Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, LKH Villach, stellte bei der Gelegenheit das Interdisziplinäre Polypharmazieboard (PPB) vor. MT fragte bei den Mitwirkenden nach, wie das Board funktioniert.

„Wir – ein paar Primarii vom LKH – haben uns nach einer Veranstaltung der Gebietskrankenkasse zur Polypharmazie überlegt: Was könnten wir zusammen mit klinischen Pharmazeuten tun, um die Situation zu verbessern?“, schildert Radoš die Anfänge und gibt als „wichtigsten Initiator“ Neurologie-Primar Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller an. Eine Prämisse ebnete den Weg zum Erfolg: „Wir waren alle der Meinung, Polypharmazie ist nur interdisziplinär zu lösen, weil einer alleine vor dem anderen Fach zu viel Respekt hat, um ein Medikament abzusetzen.“ Entstanden ist daraus ein Reformpoolprojekt (Start 2012) mit KGKK, Kärntner Gesundheitsfonds und Ärztekammer, das 2016 in die Regelversorgung überging.

Und so funktioniert das Board: Jeden Mittwoch, der Termin ist fix im Dienstplan, treffen sich Neurologen, Psychiater, Internisten und klinische Pharmazeuten des LKH Villach und diskutieren über jedes einzelne Medikament, um die jeweils beste Lösung für die Patienten zu finden. Jeder behandelnde Arzt kann zuweisen. Kriterien sind Multimorbidität, Einnahme von mehr als acht Medikamenten oder Spezialfälle mit schwierigen Medikamentenkombinationen. Während der Falldiskussion ist ein Zugriff auf alle Befunde möglich. Die Entscheidungen des PPB haben nur Empfehlungscharakter, werden in der Regel aber umgesetzt. Und: „Wir haben das Board mittlerweile als Ausbildungstool entdeckt, auch Assistenzärzte gehen mit, weil man dort enorm viel lernen kann“, berichtet die Primaria.

Interdisziplinärer Diskurs

Die klinischen Pharmazeutinnen erstellen vorab das pharmakologische Profil des Patienten, mit Anmerkungen wie z.B. „QT-Zeit-Verlängerung möglich“, „Gefahr eines Serotonin-Syndroms“, „Indikation?“, „Dosierung im Bedarf wie hoch?“, „Diagnose ergänzen“. Dieses Profil sei „sehr hilfreich“ für den interdisziplinären Diskurs, so Radoš. Wie viel Arbeit dahintersteckt, macht Mag. Andreas Wachter, Leiter der Anstaltsapotheke, deutlich: „Zwei bis drei Stunden pro Patient dauert die gründliche Vorbereitung: WW- und NW-Check, überprüfen, ob für alle Diagnosen eine adäquate Medikation besteht und ob es für jedes verordnete Medikament eine Diagnose oder einen erklärenden Befund gibt.“ Beim Board selber, das eineinhalb Stunden dauert, würden zwei bis vier Patienten „abgearbeitet“, jährlich etwa 120 Patienten. Hausintern können die Pharmazeuten auf die elektronische Fieberkurve zugreifen, inklusive Laborbefunde, aus denen die Organfunktionen für Dosierungsprüfungen ersichtlich sind.

„Wir haben uns das Ziel gesteckt, den Medikamentenstrauß ein bisschen zu lichten. Im langjährigen Schnitt – wir überblicken fast fünf Jahre – werden 20 Prozent der verordneten Arzneimittel abgesetzt“, berichtet Wachter. Die Patienten nehmen im Schnitt zirka 14, 15 Medikamente, nach dem PPB sind es elf oder zwölf. Allerdings: „Wir haben gelernt, dass Medikamente wichtig sind.“ Man könne nicht einfach alles wegtun, wie manche meinen, präzisiert Radoš. Das größte Absetzpotenzial hatten übrigens PPI, gefolgt von Plättchenhemmern, Schmerzmitteln, Harnsäuresenkern und Antidepressiva.

Ökonomischer Nutzen

„Wir konnten einen deutlichen ökonomischen Nutzen nachweisen“, betont Radoš. Die extramuralen Kosten sanken von rund 89.000 Euro auf 55.000 zwei Quartale nach dem Interventionsquartal (minus 40 %), die Kosten für die Heilmittel von 51.000 auf 39.000 Euro (minus 25 %). „Die bisher vorliegenden Ergebnisse sprechen für die Wirksamkeit der Intervention“, bestätigt Dr. Otto Liechtenecker, Allgemeinmediziner in Friesach und beratender Arzt der Abteilung Gesundheitsökonomie der KGKK. Wobei aber nicht die Kostendämpfung das Wichtigste sei, sondern eine hohe Versorgungsqualität: „Jeder bekommt die Medikamente, die er braucht.“ Eine Ausrollung des Projekts auf das Klinikum in Klagenfurt sei in Planung, so Liechtenecker, die Erfahrungen der Villacher sollen einfließen (s. Kasten).

Indes tüftelt Wachter mit seinem Team schon daran, die klinisch-pharmazeutische Dienstleistung noch effizienter allen Patienten zugänglich zu machen: „Über eine Datenbank, die den Wechselwirkungscheck direkt in der Fieberkurve ermöglicht, sollen auf einem automatisierten Weg jene Patienten herausfiltriert werden, die die klinisch-pharmazeutische Dienstleistung am dringendsten brauchen.“

Erste Lehren aus dem Polypharmazieboard

Aus dem Polypharmazieboard konnten laut Dr. Otto Liechtenecker, beratender Arzt der KGKK, schon einige Lehren gezogen werden: Niedergelassene, die dem Board auch zuweisen und dafür ein Honorar verrechnen können, tun das bisher kaum, als Grund nennen sie Zeitmangel. Zeit spiele generell eine große Rolle: „Das war ein Lernprozess für uns und für die Teilnehmer des Boards: In einer Viertelstunde geht das nicht.“ Was man auch lernen müsse: „Der Erfolg liegt nicht in der Quantität, sondern in der Qualität.“ Eine besonders wichtige Rolle haben klinische Pharmazeuten. Außerdem: „Elektronische Programme können nur unterstützen, aber niemals den Behandler ersetzen.“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune