Mobile Health: Ärzte genießen Vertrauensvorschuss

Dass bei M-Health noch Zurückhaltung herrscht, liegt nicht primär am Datenschutz. Vielmehr mangelt es an Angeboten. Doch diese werden kommen. Und dann spielt der Arzt eine zentrale Rolle. (Medical Tribune 26/2017)

Für die Früherkennung von Vorhofflimmern haben Apps, die ein EKG erstellen können, potenziell lebensrettenden Charakter. Noch zu klären ist, wie die künftige Datenflut im Praxisalltag bewältigt werden kann.
Für die Früherkennung von Vorhofflimmern haben Apps, die ein EKG erstellen können, potenziell lebensrettenden Charakter. Noch zu klären ist, wie die künftige Datenflut im Praxisalltag bewältigt werden kann.

Die Daten sind ebenso eindeutig wie vielsagend: Beachtliche 55 Prozent der Patienten würden ihre per Smartphone gesammelten Vitaldaten bedenkenlos an ihren behandelnden Arzt weitergeben. Den Krankenkassen wollen dagegen lediglich 15 Prozent ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen. Das zeigt die Studie „Mobile Health – Mit differenzierten Diensten zum Erfolg“, die das Beratungsunternehmens Deloitte gemeinsam mit dem Digitalverband Bitkom präsentierte. Für die Studie wurden 2000 Konsumenten in Deutschland befragt. Die Autoren gehen davon aus, dass mobile Gesundheitsanwendungen die Rolle von Medizinern „grundlegend“ verändern werden, wenn diese konstant Gesundheitsdaten ihrer Patienten empfangen und bei auffälligen Werten schnell aktiv werden können.

Arzt als Wächter über den Strom aus Gesundheitsdaten

Dem Arzt kommt damit eine zentrale Rolle zu. Er könnte in Zukunft Wächter über den Strom aus Gesundheitsdaten werden, den Patienten über diverse Devices sammeln. Das Potenzial digitaler Gesundheitsanwendungen ist enorm, weiteres Wachstum von M-Health ist aber kein Selbstläufer. Momentan hat die Sache nämlich einen Haken: Die Verbreitung von mobilen, internetfähigen Endgeräten wie Smartphones ist in Ländern wie Deutschland oder auch Österreich nahezu flächendeckend. Viele Verbraucher (konkret 39 Prozent der Befragten) sehen in den derzeit angebotenen Gesundheits-Apps aber noch keinen Mehrwert, der die teilweise hohen Preise für die Hardware rechtfertigt.

Es fehlten die entsprechenden, passgenauen Angebote. Das viel diskutierte Thema Datenschutz ist hingegen zwar natürlich eines, es spielt laut der Studie aber gar keine dominante Rolle: 19 Prozent der Befragten schreckt mangelnde Datensicherheit von der Nutzung mobiler Anwendungen ab. Jetzt gehe es darum, die bislang eher einfachen und spielerisch angelegten Angebote zu professionalisieren. „Endgeräte wie Fitness-Tracker und Smartwatches werden der Türöffner für M-Health sein. Es muss gelingen, überzeugende Anwendungen anzubieten, die die unterschiedlichen Zielgruppen in ihrer Therapie oder ihrem Lebensstil effektiv unterstützen“, erklärt Dr. Andreas Gentner, Partner und Leiter Technology, Media & Telecommunications EMEA bei Deloitte.

Ein schon etabliertes Best-Pratice-Beispiel dafür, wie sich per Smartphone schon heute ganz konkret Leben retten lassen, ist die First-Responder-App. Beim plötzlichen Herztod läuft die Zeit gnadenlos: Nur in einem Zeitfenster von vier bis sechs Minuten habe ein Betroffener realistische Chancen, ohne bleibende neurologische Schäden gerettet zu werden, betont der deutsche Kardiologe und Past-Präsident der Europäischen Herzrhythmusgesellschaft, Prof. Dr. Gerhard Hindricks. So schnell kann kaum ein Notarzt vor Ort sein. Mittels First-Responder-App werden registrierte freiwillige Ersthelfer im Umkreis von 500 Metern alarmiert. „Wir hoffen, damit den Anteil der ohne neurologische Komplikationen Geretteten auf 30 bis 40 Prozent anheben zu können“, so Hindricks. Derzeit gelinge das nur bei zwei bis acht Prozent.

Wohin mit der Datenflut?

Neben vergleichsweise simplen Apps werden zunehmend auch Hardware-Lösungen relevant. Innovationen wie smarte Kleidung, die Vitaldaten misst, stehen in den Starlöchern. 38 Prozent der Deutschen könnten sich sogar vorstellen, in Zukunft unter die Haut implantierte Mikrochips zur Überwachung von Körperfunktionen zu verwenden. Auch Hindricks verfolgt die Entwicklung mit Interesse: „Die Apps sind heute schon in der Breite verfügbar und sind nur ein Zwischenschritt zu dem, was in den nächsten Jahren noch kommen wird: den Wearables, die in der Lage sein werden, automatisch Daten wie Herzrhythmus, Blutdruck und Sauerstoffsättigung aufzuzeichnen.“

Damit diese Daten auch verwertbar seien, brauche es allerdings auch Strategien für eine systematisierte Auswertung, hält der Linzer Kardiologe Prof. Dr. Helmut Pürerfellner fest: „Es kann ja nicht sein, dass dann plötzlich 100 Leute mit dem EKG auf dem Smartphone in der Ordination stehen.“ „Der Schwerpunkt der relevanten Anwendungen wird sich in Richtung chronisch Kranker entwickeln“, meint Dr. Gregor-Konstantin Elbel, Partner und Leiter Life Sciences & Health Care bei Deloitte. Neue Anwendungen könnten für Patienten wie auch behandelnde Ärzte gleichermaßen hohen Nutzen bieten. Um diese in die therapeutische Praxis zu bringen, müsse der regulatorische Rahmen stärker entlang der neuen, digitalen Realitäten definiert werden. Derzeit existieren noch hohe rechtlich-regulatorische Hürden bei der Verwendung von Consumer Devices für medizinische Zwecke – hier sei der Gesetzgeber gefordert.

„Die Komplexität des Gesundheitssystems mit all seinen Beteiligten – Hersteller neuer Angebote, Leistungserbringer, Krankenkassen und Patienten – ist eine große Hürde. Anbieter- und branchenübergreifende Kooperationen könnten der Schlüssel sein, um das volle Potenzial von Mobile Health auszuschöpfen“, sagt Bitkom-Geschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder. Trotz aller Euphorie für die Chancen der Technik – in puncto Datenschutz äußert sich Hindricks deutlich krtischer: Die über Fitnessapplikationen erhobenen Daten würden heute schon in „irgendwelchen Datenbanken versanden, von denen kein Mensch weiß, wer darauf Zugriff hat“. Er fürchtet, dass sensible biologische Daten kommerzialisiert werden könnten, um Gesundheitsprofile zu erstellen. Hindricks nimmt daher Ärzteschaft und Politik in die Pflicht: „Das ist eine gesundheitspolitische Verantwortung, das dürfen wir doch nicht Facebook und Apple überlassen.“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune