Ländle-Ärzte stehen unter Strom

FOTO: MEGAFLOPP / GETTYIMAGESVorarlberg ist Anfang Februar als erstes Bundesland in das Zeitalter der E-Medikation gestartet – die Hausärztin und MT-Korrespondentin Dr. Rosemarie Plötzeneder schildert ihre ersten Erfahrungen im Praxisalltag. (Medical Tribune 09/18) 

Als Hausarzt redet man viel, seit 1. Februar in Vorarlberg noch mehr. Denn mit Einführung der E-Medikation bei Vertragsärzten liegt es nun an uns, den Patienten die Neuerung näherzubringen und Fragen zu beantworten. Zwar wurde uns eine „Information für Patientinnen und Patienten“ zur Verfügung gestellt, die nun verpflichtend im Wartezimmer hängt. Allerdings findet das DIN-A4-Blatt, unauffällig wie eine Schneeflocke auf der Skipiste, mit welchem die Patienten in kleingedruckter Schrift wie über Allgemeine Geschäftsbedingungen eines Vertrages nun aufgeklärt werden sollen, neben den Plakaten für Mammographie und Zeckenschutzimpfung keinerlei Beachtung. Und so fühle doch ich mich verantwortlich, Unklarheiten aus dem Weg zu räumen. Ein Kollege fasste den dafür notwendigen Zeitaufwand passend zusammen: Benötige ich auch nur 60 Sekunden für eine schnelle Erläuterung der E-Medikation, so ist das bei 60 Patienten am Tag immerhin eine Stunde mehr Arbeitszeit. Oder sollen wir das therapeutische Gespräch mit dem Patienten um 60 Sekunden kürzen? Aber irgendwann in Zukunft wird die E-Medikation zum Alltag gehören und alle Fragen beantwortet sein, so die Hoffnung.

Ratespiele haben ein Ende

Insgesamt ist der Start aber gut über die Bühne gegangen. Die Befürchtung, am ersten Tag wie der Ochse vor dem Berg vor dem Computer zu sitzen und nicht zu wissen, was da vor sich geht, hat sich nicht bestätigt. Zum Glück. Nach zwei Wochen zeichnet sich auch ab, dass einem, insbesondere bei Vertretungspatienten, das System doch auch unter die Arme greift. Etwa wenn Frau Müller bei ihrem Hausarzt war, der ihr aufgrund des Harnwegsinfektes eine „runde weiße Tablette mit einem Strich in der Mitte“ verordnet hat, die Beschwerden aber leider noch da sind. Ah ja, Ciprofloxacin, mit Stärke, Verschreibungsdatum und Verordner, ist ohne viel Aufwand in einem gesonderten Feld in der Medikation zu sehen. Hier lassen sich wieder Zeit und Nerven sparen, indem man nicht mehr eine Reihe von Antibiotika mit dem Patienten durchgehen muss, um dann, möglicherweise, das Richtige erraten zu haben.

Das Gros der Patienten nimmt eben aus diesem Grund, dass ein anderer Arzt auf einen Blick die verordneten Medikamente sieht, die neue Funktion durchaus positiv auf. Erschreckend viele haben allerdings noch nie etwas von ELGA gehört, geschweige denn von der E-Medikation. Anderen ist das Wort ein Begriff, sie wissen aber nicht, worum es geht. Und so erklärt man schön geduldig, dass mit Stecken der E-Card der Arzt 28 Tage Zugriff auf die E-Medikation erhält und die dort verordneten und in der Apotheke abgeholten Medikamente für ein Jahr gespeichert und anschließend gelöscht werden. Worauf eine Studentin sichtlich erfreut ist, dass ihr Hausarzt in Wien nun sieht, was ich in der Grippesaison so aufschreibe. Leider nein, so die Antwort, denn Wien startet voraussichtlich erst ab Juli 2019.

Dr. Rosemarie Plötzeneder ist als niedergelassene Allgemeinmedizinerin in Schwarzach, Bezirk Bregenz, tätig
Dr. Rosemarie Plötzeneder ist als niedergelassene Allgemeinmedizinerin in Schwarzach, Bezirk Bregenz, tätig

Die Theorie hinter dem Gedanken ist sehr gut, in der Praxis gibt es allerdings einige Ausnahmeregeln. Patienten haben etwa die Möglichkeit, selbst mittels Bürgerkarte oder Handysignatur nicht nur in die ELGA einzusehen, sondern die E-Medikationsliste zu löschen. Es ist zudem möglich, die Zugriffszeit eines Arztes zu verkürzen, bei einem anderen auf bis zu einem Jahr zu verlängern. Das bedeutet, dass selbst unter Vertragsärzten das System nicht lückenlos ist und ich mich als Hausarzt nicht auf die Vollständigkeit verlassen kann. Und das situative Opt-out macht die Sache nicht besser. Bei psychischen Erkrankungen, einer HIV- oder genetischen Untersuchung, einer Substitutionsbehandlung oder einem Schwangerschaftsabbruch ist der Arzt zu Beginn eines Behandlungsfalles verpflichtet, den Patienten über die Möglichkeit des situativen Opt-outs aufzuklären. Hier ist die Hauptdiagnose entscheidend, der Patient kann der Speicherung einzelner oder aller Medikamente bzw. später Befunde widersprechen.

Ich bin schon glücklich mit der Tatsache, dass sich dies auf die Hauptdiagnose bezieht. Denn sonst müsste jeder Patient, der ein SSRI als Begleitmedikation hat, gesondert über das Opt-out aufgeklärt werden. Und dann würden wir Ärzte noch spätabends in den Ordinationen sitzen und reden. Zwar ist es erlaubt, die Aufklärung schriftlich durchzuführen – und das mache ich in meiner Ordination auch so –, doch zeigt sich, dass die Patienten so ganz ungefragt den Zettel nicht unterschreiben und wissen wollen, was nun genau daraus resultiert, wenn sie das Opt-out in Anspruch nehmen oder nicht. Eben jene Patienten mit gravierenden psychischen Erkrankungen, bei denen ich mir zur Erleichterung der Arbeit und zum Abstimmen der Verordnungen zwischen Krankenhaus, Facharzt und Hausarzt die E-Medikation gewünscht hätte, wählen das Opt-out. Oder wie eine Patientin zu mir gesagt hat: „Sie dürfen alle meine Medikamente speichern, nur die Psychopharmaka nicht.“ Nach der ersten Woche mit Medikation habe ich kurz den Glauben an meine Patienten verloren. In der E-Medikation sieht man nun, welcher Arzt wie viel eines Medikamentes rezeptiert hat und was in der Apotheke bezogen wurde.

Nach den ersten Tagen stehen einige Patienten erneut in der Ordination, um den Blutdruckpass herzuzeigen, den ich in Auftrag gegeben habe. Aber laut Programm wurde das verordnete Medikament gar nie in der Apotheke abgeholt. Die Patienten beteuern, es geholt zu haben, das System sagt nein, der Arzt steht dazwischen. Erst im Nachhinein erfahre ich, dass bloß ein Viertel der Apotheken mit 1. Februar online waren. Diese Information vorab wäre angebracht gewesen, hätte sie doch einigen Zweifel an meinen Computerkenntnissen und an der Glaubwürdigkeit meiner Patienten erspart. Inzwischen klappt das deutlich besser, die Medikamente erscheinen als in der Apotheke abgeholt. Beim Kaffeeplausch mit einem befreundeten Apotheker wird mir klar, dass die Umstellung für Apotheker deutlich gravierender war als für Ärzte. Denn nun müssen auch Apotheken über eine GINA-Box verfügen und benötigen ein E-Card-Lesegerät. Und das Erste, was der befreundete Apotheker tun musste, war, seine Datenleitung aufzustocken. Und auch in der Ordination zeigt sich, dass die Anforderung des zentral in Wien vergebenen und nun auf dem Rezept aufgedruckten QR-Codes etwa zwei Sekunden in Anspruch nimmt.

Selbst mir als nicht computeraffinem Menschen ist klar, dass die Datenleitungen in Zukunft einiges bewerkstelligen werden müssen, wenn zu Stoßzeiten ganz Österreich den QR-Code anfordert. Im rechten oberen Eck meines Computers befindet sich nun ein neues, farblich codiertes Feld für E-Medikation. Ist das Feld nach Stecken der E-Card grün, werden die Medikamente zentral gespeichert. Lediglich ein Patient hat sich bereits vor Monaten von ELGA abgemeldet, hier blieb das Feld trotz E-Card rot. Bestellen Patienten ein Rezept vorab telefonisch, ohne dass wir bereits ein Zugriffsrecht durch einen Ordinationsbesuch haben, werden diese nicht gespeichert. Das gilt auch für händisch ausgestellte Rezepte bei Hausbesuchen. Hier haben die Patienten die Möglichkeit, durch Stecken der E-Card in der Apotheke die Medikamente in die Liste aufnehmen zu lassen. Allerdings ist die Bereitschaft der Kunden dafür, so mein befreundeter Apotheker, gering. Auch viele OTC-Präparate könnten in die E-Medikation aufgenommen werden, was aber nicht in Anspruch genommen wird.

Arzt und Apotheker einig

Der Apotheker und ich sind uns einig, dass dies hauptsächlich am dürftigen Informationsstand der Bevölkerung liegt. Das eingangs erwähnte Informationsblatt wird die Situation nicht bessern, das bestätigen auch die Beobachtungen meiner Assistentin. In zwei Wochen ist noch niemandem der Zettel an der Anschlagtafel aufgefallen. Schließlich benötige schon ich fast eine Lupe, um den Text lesen zu können. Wie soll das dem Patientengut einer allgemeinmedizinischen Praxis gelingen, wenn der Graue Star oder die Makuladegeneration die Sehkraft nimmt? Und so werde ich die nächste Zeit fleißig in Aufklärungsarbeit investieren und hoffen, dass mit der Zeit das Bewusstsein und der Wissensstand der Bevölkerung in Hinblick auf ELGA fortschreiten. Und ich mich in fernerer Zukunft wieder voll meiner Hauptaufgabe widmen kann: der medizinischen Betreuung meiner Patienten.

Hintergrund

Im Juni 2017 gab es noch keine konkreten Pläne für niedergelassene Ärzte, wie und wann die Umsetzung der E-Medikation stattfinden soll. Im Herbst 2017 lief eine Testphase mit „friendly user“ in Dornbirn. Mit 28.11.2017 wurden die Vertragsärzte in Vorarlberg über das Roll-out im Jänner und die Inbetriebnahme mit 1. Februar 2018 informiert. Aktuell arbeiten 307 Ärzte und 37 Apotheken mit E-Medikation. Bis September 2019 soll diese flächendeckend in Österreich eingeführt werden.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune