Über das Staunen

Ich staune, wie Punschstände und Weihnachtsbeleuchtung Jahr für Jahr noch ein bisschen früher beginnen. Und bei all dem zweimonatigen Adventstaunen ist die Gefahr gegeben, dass uns das weihnachtliche Staunen langsam abhandenkommt. Dabei ist das Staunen eine ganz wesentliche Komponente des Lebens – wenn es uns noch widerfährt. Gelegenheiten gibt es viele – wenn wir sie sehen. Die Liebe der Menschen, mit denen wir leben, zusammenleben. Der begeisterte Blick der Kinder, nicht nur am Heiligen Abend unter dem Christbaum, sondern Tag für Tag, im wirklichen Leben. Staunen, dass wir in unserem Gesundheitssystem etwas bewegen und verändern können – auch wenn dies oft einen langen Atem braucht. Staunen, wenn PatientInnen und Angehörige wortvoll dankbar sind, weil das Gespräch mit ihnen ein gelungenes war. Nie werde ich manche Augen-Blicke vergessen, mit welchen Menschen tiefe Dankbarkeit ausdrückten. Dankbarkeit – obwohl die besprochenen Wirklichkeiten keine „guten Neuigkeiten“, sondern solche waren, die die Begrenztheit des Lebens ausdrückten. Tiefe Augenblicke – wortloses Staunen. Präsent sein, so, dass wir diese Momente auch spüren – trotz Zeitdruck und Personalmangel.

Abenteuer im Kopf

Und gerade deswegen auch noch Zeit finden für geschaffene Orte des Staunens. Die Bühnen der Theater. Die Welten der Bücher. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo, sagt uns André Heller. Staunen über die Wunder, die möglich sind. Viele Menschen feiern Weihnachten. Nicht alle davon glauben an das Wunder der Weihnacht. Aber hoffentlich glauben sie an das Staunen. Und während wir auf Weihnachten warten, wird politisch diskutiert und verhandelt. Bei unseren Nachbarn ist die geplante Koalition gescheitert. Hierorts warten wir, wie die Gespräche weitergehen. Über manches staunen wir schon jetzt. Manches wundert uns nicht. Wir hoffen. Und über all dem: Staunen. Über die wunderbare Begegnung mit Menschen. Die Freude der demenzkranken Frau, das Lachen des bisher leidenden Mannes. Staunen: über die Größe und Einmaligkeit unseres Lebens, über die Liebe, über unsere Liebsten. Das Leben ist keine Generalprobe. Staunen wir, es ist Aufführung!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune