23. Nov. 2017

Vererbtes Schädel-Becken-Missverhältnis

EVOLUTION – Die höheren Raten an Notkaiserschnitten haben bereits anatomische Veränderungen zur Folge. (Medical Tribune 46/17) 

Mitteröcker untersucht die Geburt im Hinblick auf die Evolution.
Mitteröcker untersucht die Geburt im Hinblick auf die Evolution.

Am Science Talk nahm auch Prof. Dr. Philipp Mitteröcker vom Department für Theoretische Biologie an der Universität Wien teil. Sein Team beschäftigt sich mit dem Missverhältnis zwischen der Schädelgröße des Babys und dem Becken der Mutter – ein Problem, das in der Menschheitsgeschichte mit der Aneignung des aufrechten Gangs seinen Lauf nahm und durch natürliche Selektion nicht gelöst werden konnte (s unten): „Vor ungefähr fünf Millionen Jahren hat der Mensch begonnen, den aufrechten Gang zu entwickeln, und entsprechend hat sich das Becken adaptiert.“ Biomechanisch ist für den Gang ein schmaleres Becken von Vorteil. „Vor ein bis zwei Millionen Jahren, hat der Mensch begonnen, ein größeres Gehirn zu entwickeln, das durch diesen schmalen Geburtskanal durch musste.“ Warum ist der Geburtskanal nicht breiter geworden? „Es muss irgendeine Art Gegenspieler geben – einen entgegengesetzten Selektionsdruck“, erläutert Mitteröcker.

„Bei sehr breiten Becken kann es bei der Geburt zum Gebärmuttervorfall und anderen Beckenbodenproblemen kommen.“ Die regelmäßige Anwendung von lebensrettenden Kaiserschnitten in den letzten 50 bis 60 Jahren hat inzwischen bereits eine evolutionäre Veränderung anatomischer Dimensionen bewirkt, wie Mitteröcker und sein Team in einem populationsgenetisch-mathematischen Modell zeigen konnten. Die Häufigkeit von Geburtsproblemen durch ein Schädel-Becken-Missverhältnis hat sich dadurch um 10–20 % erhöht. „Die Zunahme der Kaiserschnitte ist zwar ein soziales Phänomen, aber auch die Geburtsproblematik hat zugenommen, wenngleich in einem viel geringeren Ausmaß als die Kaiserschnitte“, erklärt Mitteröcker. In einer aktuellen Studie zeigen Mitteröcker et al. nun, dass Frauen, die selbst aufgrund eines Schädel-Becken-Missverhältnisses durch Kaiserschnitt auf die Welt kamen, mehr als doppelt so häufig ein Missverhältnis bei der Geburt ihrer Kinder entwickeln als Frauen, die natürlich geboren wurden. „Tatsächlich fanden wir empirische Studien, die Geburtsprobleme und Kaiserschnitt über zwei Generationen untersuchten. Die vorhergesagte ‚Vererbbarkeit‘ von Schädel-Becken-Missverhältnis und Kaiserschnitt wird durch diese Studien erstaunlich genau bestätigt.“

Referenz:
Mitteroecker P et al., PNAS 2017; DOI 10.1073/pnas.1712203114; DOI 10.1073/pnas.1612410113

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune