20. Juli 2017

„Jetzt muss ich nicht mehr davonlaufen“

Radioonkologe und Strahlentherapeut Dr. Raoul Pinter (40) vom Landeskrankenhaus Feldkirch spricht über die Herausforderung, täglich mit schwerkranken und sterbenden Menschen umzugehen. Am Leid seiner Patienten wäre er selbst beinahe zugrunde gegangen. (Medical Tribune 29/2017)

Raoul Pinter lässt tief blicken: „Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch.“
Raoul Pinter lässt tief blicken: „Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch.“

MT: Weshalb wollten Sie denn überhaupt Arzt werden?

Pinter: Als ich an der Handelsakademie war, habe ich parallel dazu eine Abendschule zum staatlich geprüften Heilmasseur besucht. Dort bin ich einem Arzt begegnet, der Anatomie und Pathologie unterrichtet hat. Ich erinnere mich genau, wie er in die Klasse trat und so eine Ausstrahlung hatte. Ich dachte: Genauso will ich werden. In diesem Moment habe ich beschlossen, Medizin zu studieren.

Was war so besonders an diesem Lehrer?

Pinter: Seine Fähigkeit, in kürzester Zeit das wesentliche Ganze vom Menschen zu erfassen.

Das entspricht nicht unbedingt dem klassischen Bild eines Arztes. Normalerweise fallen eher Stichwörter wie Helfen und Heilen oder Wissen …

Pinter: Ja, natürlich haben mich auch diese Dinge motiviert. Es war die Kombination aus enormem fachlichen Wissen und gleichzeitig der Blick ins Herz.

Wie kamen Sie schließlich zur Radio­onkologie?

Pinter: Ich wollte eigentlich Chirurg werden. Es war aber vorgesehen, dass ich ein Jahr auf die Station der Radio­onkologie und Strahlentherapie gehe. Nach vier Monaten wusste ich, dass ich die Ausbildung zum Radioonkologen machen möchte.

Was hat Sie zu dem Schritt bewegt?

Pinter: Mein Mentor Roland Maier, der damalige stationsleitende Oberarzt. Er war sozusagen die nächste Stufe der Vereinigung von rascher Sinnerfassung, Menschlichkeit und exzellentem Fachwissen. Und überhaupt die ganze Station hier. Es war so menschlich! Alle haben alles gesehen, nicht nur das Gehirn oder die Brust, die man bestrahlt. Endlich hat man die Wichtigkeit des psychosozialen Hintergrundes des Patienten beachtet.

Hat Ihnen das zuvor gefehlt?

Pinter: Nicht bewusst, doch auf der Station habe ich realisiert, dass es das ist, was ich immer machen wollte: Medizin mit dem menschlichen Hintergrund. Denn dann hat es für mich eine Tiefe bekommen und eine gewisse Erfüllung erhalten, die mich bisweilen auch viel Energie gekostet hat und mich anfangs in die Knie gezwungen hat, so weit, dass ich kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Was ist passiert?

Pinter: Hier bei uns wird viel gestorben, es gibt viele metastasierte Patienten, unheilbare Erkrankte, schwerstes Leid und schwerste Krankheit. Das steht auf der Tagesordnung. Und da so hineinzulaufen mit viel Idealismus und komplett offenem Filter, wie ein offenes Rohr in jeglicher Hinsicht zu sein … Es hat nicht lange gedauert, bis ich Patienten zugeteilt bekommen habe und sich dann natürlich eine Beziehung zu ihnen entwickelt hat, die ich vorher im Turnus in dieser Intensität nicht erlebt habe. Die Abgrenzung ist mir in der ersten Zeit schwer gefallen, es hat mich vereinnahmt.

Wie haben Sie gelernt, damit umzugehen?

Pinter: Indem ich zuerst am Boden gelegen bin. Zuerst bin ich eingegangen, habe ich mich selbst verloren. Anfangs habe ich diese üblichen Mechanismen gemacht, die man sonst totschweigt: Alkohol, extensiv und riskanten Sport betrieben, wenig Schlaf, Sarkasmus dem Patienten gegenüber. Sicher eine gewisse Verrohung innerhalb des Herzens. Ich habe irgendwann einmal bemerkt: Ich kann mich jetzt nicht mehr so einlassen und langsam werde ich böse auf Patienten.

Böse? Wieso?

Pinter: Weil mich die Patienten mit Leid und Sorge am Lebensende belastet haben. Das war mir irgendwann zu viel. Ich glaube, dieses ungefilterte, unreflektierte Dasein meiner eigenen Person war das Problem. Das hat mich an den Rand des Abgrunds getrieben. Ich war an der Kippe. Die Frage war, warum halte ich das nicht aus? Warum halte ich es nicht mehr aus, wenn mir jemand sein tiefstes Leid erzählt? Dafür bin ich ja da. Zeitgleich ging bei mir die Ehe kaputt, mit meiner Tochter lief es nicht so, wie ich wollte. Und dann war der Rattenschwanz perfekt. Es war eine Katastrophe.

Wie ging es weiter?

Pinter: Meine damalige Frau und ich beschlossen, professionelle Hilfe in einer Gruppentherapie zu holen. Da habe ich zum ersten Mal wirklich hinterfragt, wo ich herkomme und was meine eigentlichen Antriebe sind. Da kam der Stein ins Rollen, und ich begann Schritt für Schritt, die Vergangenheit und auch die Gegenwart aufzuarbeiten. Die Beschäftigung mit dem eigenen Leid war sicher einer der wichtigsten Punkte in meinem Leben, nicht nur als privater Raoul Pinter, sondern auch als Arzt, Onkologe und Palliativmediziner Raoul Pinter. Woher das eigene Leid kommt, wo ich herkomme und wo meine Gefühle herkommen. Das Gefühlschaos zu erkennen und langsam auseinanderzupflücken hat sehr viel Energie gekostet, viele Tränen, hat wahnsinnig wehgetan, war total unangenehm und schambesetzt. Ob es die absolute Wahrheit ist, die ich entdeckt habe, oder nicht, weiß ich nicht, doch für mich stimmt es. Jetzt kann ich seit vielen Jahren hier sitzen und muss nicht davonlaufen oder sarkastisch werden, wenn mir tiefstes, schwerstes Leid vom Patienten, von Angehörigen und Kindern geklagt wird.

Wie begegnen Sie dem Patienten heute?

Pinter: Ich werde jetzt nicht mehr hin- und hergeworfen. Das darf man aber nicht mit einer Verrohung verwechseln, im Gegenteil. Aber ich fange auch nicht permanent zu weinen an, wenn mir jemand etwas Tragisches erzählt. Es gibt mehr Struktur in meiner Emotion. Ich kann ein wenig mehr der Regisseur in meinem eigenen Film bleiben und das gibt mir Ruhe und signalisiert meinem Gegenüber eine gewisse Art von Sicherheit. Ich glaube, dass das oft das Allererste ist, was die Patienten brauchen: Nicht so sehr die Lösung, welche Strahlentherapie oder Chemo man jetzt machen soll, sondern das Signal: Ich verstehe dich, ich bleibe hier und lasse dich nicht alleine. Klage mir dein tiefstes Leid, wenn du willst. Sag mir deinen verborgensten Gedanken, zeig mir deine Angst. Du darfst das bei mir, hier ist genug Raum dafür. Es kann sein, dass es mich wahnsinnig berührt, es kann sein, dass ich deinen Schmerz spüre, es kann sein, dass mir vielleicht übel wird, und es kann sein, dass mir schwindlig wird. Ich glaube, man darf und soll bis zu einem gewissen Grad signalisieren, dass man berührt ist. Aber man darf sich emotional auch ein wenig zurücknehmen, denn man muss objektive Entscheidungen treffen.

Neben Ihrem Beruf machen Sie Triathlon. Kann Ihre Motivation auch daherkommen, dass Sie sich Ihrer Endlichkeit bewusster sind als andere?

Pinter: Das ist sicher ein gutes Stichwort, denn in all dem, das ich getan habe, habe ich natürlich immer erkannt, dass ich Grenzen habe. Nicht, dass mir fad wäre, doch es begegnen mir immer wieder Dinge, die mich wahnsinnig fordern. Ich mache Triathlon und bereite mich gerade auf eine Langdistanz vor. Das braucht viel Zeit und Struktur, und man denkt in einer anderen Sphäre. Man trainiert drei Sportarten und Krafttraining dazu. Meine Frau hält mich für wahnsinnig, doch für mich ist es eine andere, willkommene Herausforderung. Nicht, dass ich die ganze Zeit nach Herausforderungen suche. Sie kommen einfach, aber gut, ich bin auch offen dafür (schmunzelt) und bin dankbarer Aufnehmer für sie.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Pinter: In beruflicher Hinsicht, dass das Bewusstsein für nicht heilbare Menschen noch größer wird, dass wir mehr zuhören und mehr den ganzen Menschen mit seinem Hintergrund sehen. Ich wünsche mir, dass wir uns genau überlegen, was für Therapien wir anwenden, und dass wir das stärker mit dem Patienten evaluieren. Das bedarf aber einer sauberen Auseinandersetzung mit sich selbst, denn ohne es auszuhalten, weshalb der Patient hier sitzt mit seinem Leid, kann ich keine saubere Therapieempfehlung abgeben.

Und was wünschen Sie sich selbst?

Pinter: Dass mein durch das Training lädierter Knochen ausheilt und ich in Kärnten beim Iron Man Austria gut durchkomme. Dass meine Frau und Töchter gesund bleiben. Irgendwann möchte ich mit ihnen, vielleicht auch mit Kindeskindern, im Sommer im Garten am Tisch sitzen und mir das „Ergebnis“ meines Lebens anschauen. Auf mein Leben zurückblicken und es Revue passieren lassen. Dann kann ich durchaus einmal sterben. Aber jetzt noch nicht. Jetzt würde ich gerne noch leben. Möglichst lange (lacht).

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune