1. Juni 2017

Onkosexologie: Reden und reden lassen

Onkologen sprechen das Thema Sex nicht an, für die meisten Sexologen ist Krebs ein Tabu. Übrig bleiben die Patienten, von denen nicht wenige eine wichtige lebensbejahende Ressource einbüßen. (krebs:hilfe! 5/2017)

Istock-Tashi-Delek

Wer eine Krebsdiagnose erhält, für den rückt Sexualität erst einmal in den Hintergrund. Trotzdem sollten Ärzte und Pflegepersonen Gespräche anbieten bzw. Lösungen aufzeigen, findet Dr. Yacov Reisman, PhD, FECSM, President elect der Europäischen Gesellschaft für Sexualmedizin. Der Urologe und Sexualmediziner erinnert sich an einen Prostatakarzinompatienten, der infolge der Therapie keine Erektion mehr bekommen und das gewohnte Sexualleben mit seiner Partnerin nicht fortsetzen konnte. Als dieser das Thema unter Freunden anschnitt, bekam er die Antwort: „Sei froh, dass du am Leben bist.“ In anderen Worten bedeute das: „Du hast kein Recht, dich zu beklagen“, so Reisman. Gerade weil derartige Reaktionen eine konstruktive Auseinandersetzung verhindern, seien medizinische Fachkräfte gefordert, das Thema Sexualität aufzugreifen und Lösungen anzubieten.
Im Rahmen eines CCC-Impromptu-Seminars an der MedUni Wien fasste Reisman zusammen, welche Faktoren die Sexualität von Krebspatienten beeinträchtigen und wie Ärzte und Pflegepersonen helfen können.

Einflüsse auf das Sexualleben

Mehr als die Hälfte aller onkologischen Patienten gibt an, dass die Krebsdiagnose negative Konsequenzen auf ihre Sexualleben hatte (siehe Tabelle). In einer anderen Studie stellen 78 Prozent der Lebenspartner von Krebspatienten einen negativen Einfluss auf die Sexualität bzw. sexuelle Beziehung fest. Probleme bereiten auch jene Tumorentitäten, die nicht direkt ein Sexualorgan betreffen, betont Reisman.

Häufigkeit von Sexualstörungen bei einer Tumorerkrankung
Primärtumor in Anteil der Patienten mit gestörter Sexualität
Brust 35-50 %
Kopf und Hals 50 %
Blut bzw. lymphatisches System 50-70 %
Kolon/Rektum 30-85 %
Zervix 60-80 %
Ovar > 90 %
Blase > 80 %
Prostata 45-100 %
Alle Krebsarten > 50 %

Die Ursachen für eine sexuelle Störung ortet der Experte in einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Sexuelle Funktion, sexuelle Identität und sexuelle Beziehung beeinflussen einander wechselseitig. Die negative Beeinträchtigung einer Komponente durch die Krebstherapie oder -erkrankung führt zu Imbalancen in den anderen Bereichen.
Häufig kommt es zu einer sexuellen Dysfunktion, die aus biologischen Faktoren resultiert. Dazu zählen anatomische und physiologische Beeinträchtigung (z.B. Durchtrennung von Nerven) sowie Effekte verschiedener Therapien (Chemotherapie, Bestrahlung). Aber auch soziale Komponenten wie Beziehungs- und Berufsleben, Einkommenssituation und psychologische Faktoren wie Stress, Depression und Wut als auch Verarbeitung der Erkrankung können sexuelle Dysfunktion begünstigen.
In einer Metaanalayse mit über 10.000 (hämato)onkologischen Patienten fanden sich Depression, Angstzustände, Anpassungsstörungen und Dysthymie bei 38 Prozent der Betroffenen.1
Auch wenn die Funktion nicht mehr gegeben ist, hat jeder Mensch eine sexuelle Identität. Zu den möglichen Auswirkungen einer Krebserkrankung auf diese Identität zählen die Reduktion des sexuellen Interesses und der Aktivität, Änderungen des Körperbildes (Narben, Stoma), der Körperfunktion (Kontinenz, Sexualität), das Gefühl der sexuellen Inkompetenz bis hin zu einem Verlust der Selbstachtung.
Aber auch die sexuelle Beziehung zum Partner wird auf die Probe gestellt und verändert sich. Gefordert ist eine Anpassung an ein erhöhtes Stress-Level, an Änderungen in der Familienstruktur und möglicherweise auch den Verlust des Einkommens.

Individuelle Bewältigung

Für die Bewältigung der neuen Lebensumstände ist neben Erkrankungsfaktoren, persönlichen Faktoren (Biografie), physischer und sozialer Umwelt auch der Zugang des medizinischen Fachpersonals zu diesem Thema relevant. Wie Menschen mit den aus der Erkrankung resultierenden sexuellen Problemen umgehen, ist sehr individuell und hängt unter anderem von der Quantität und Qualität des Sexuallebens vor der Erkrankung ab. Darüber hinaus beschreibt Reisman geschlechtsspezifische Unterschiede. So widmen sich viele Frauen primär dem Wiederherstellen der Beziehung zum Partner, ihrem veränderten, äußeren Erscheinungsbild und dem eigenen Verlangen nach Sexualität, während Männer sich auf die Funktionalität und etwaige Erektions- bzw. Orgasmusprobleme konzentrieren.
Die in sexuellen Beziehungen oft über Jahre bestehenden Muster der Sexualität und Intimität müssen bei jedem Paar nach der Krebstherapie neu verhandelt und etabliert werden, sodass Patienten ein neues Ich- und ein neues Wir-Gefühl entwickeln. „Was ist möglich, und was gefällt uns bzw. gefällt uns nicht?“, sind Fragen, die es neu zu klären gilt. Initial kann emotionale und physische Intimität wichtiger werden als Sexualität selbst. „An einem bestimmten Zeitpunkt erlangt die physische Sexualität in den meisten Fällen aber wieder ihre ursprüngliche Relevanz“, erklärt Reisman.

Verantwortung der Onkologen

Der Experte führt sexuelle Probleme infolge einer Krebsdiagnose in erster Linie auf die Effekte von Krebstherapien und nicht auf die Erkrankung selbst zurück. Insofern liege die Verantwortung, Menschen bei der Bewältigung zu unterstützen, auch bei jenen, die die Therapie durchführen, seien es Internisten, Chirurgen, Gynäkologen, Urologen, Strahlentherapeuten oder andere Fachrichtungen.
Umgekehrt wirkt sich sexuelle Gesundheit in vielerlei Hinsicht positiv aus und beeinträchtigt den weiteren Therapie- und Krankheitsverlauf. Sex und Intimität sind nicht nur wesentliche Faktoren für die Lebensqualität, sondern können durch die Freisetzung von Endorphinen auch Schmerzen reduzieren, für emotionale wie physische Entspannung sorgen und dabei helfen, mit Angst und Verwirrung umzugehen. Reisman: „Nicht zuletzt kann Sexualität auch ein Weg sein, zum Leben zu stehen.“
Im Sinne einer sexualmedizinischen Betreuung von Tumorpatienten (Onkosexologie) empfiehlt Reisman, die eigenen Ängste zu überwinden, passende Fragen in das Patientengespräch einfließen zu lassen und das Gespräch über sexuelle Probleme anzubieten (siehe Kasten „sexualmedizinisches Assessment“). Damit bekommen Patienten die Möglichkeit, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Auch wenn sexuelle Gesundheit zum Zeitpunkt der Diagnose kein Thema sein mag, kann sich das im Laufe der Erkrankung ändern, sodass Patienten auf das Gesprächsangebot zurückkommen. Dass Sexualität vonseiten des medizinischen Personals angesprochen wird, sei ein ausdrücklicher Wunsch der Patienten, so Reisman.2

BETTER-Model für sexualmedizinisches Assessment

  • Bringen Sie das Thema zur Sprache.
  • Erklären Sie, dass Sie sich mit der Lebensqualität Ihrer Patienten auseinandersetzen möchten, und dazu gehört auch die Sexualität. Selbst wenn Sie nicht alle Fragen beantworten können, sollten Sie vermitteln, dass Patienten über ihre Sorgen mit Ihnen sprechen können.
  • Teilen Sie Ihren Patienten mit, dass Sie sie bei Bedarf an die für das jeweilige Problem kompetente Stelle zuweisen.
  • (Timing) Stellen Sie sicher, dass Patienten zu jedem Zeitpunkt nach Informationen fragen können.
  • Erklären Sie Ihren Patienten alle Nebenwirkungen der Krebstherapie.
  • (Report) Dokumentieren Sie Ihr Assessment und Ihre Interventionen in der Krankengeschichte.

Quelle: adaptiert nach Mick J et al., Clin J Oncol Nurs 2004, 8:84-6

Ängste auf beiden Seiten

Strukturelle Veränderungen des Körpers, Haarverlust, erektile Dysfunktion, vaginale Trockenheit, Verlust der Sensibilität und andere Nebenwirkungen verursachen Stress. Viele Patienten, vor allem Frauen, schaffen es nicht, diese Themen von sich aus anzusprechen. „Dagegen können Probleme oft sehr einfach vermieden oder gelöst werden, indem Patienten eingeladen/aufgefordert werden, darüber zu sprechen“, ist Reisman überzeugt.
Leider scheuen sich auch Ärzte und Pflegepersonen davor, über sexuelle Gesundheit zu sprechen. So wurde bei 62 Prozent der in einer Studie befragten Frauen mit gynäkologischen Tumoren das Thema Sexualität zu keinem Zeitpunkt von Ärzten oder Pflegepersonen angesprochen.3 Dahingegen haben eigens ausgebildete Sexologen zwar keine Berührungsängste mit ihrem Fachgebiet, schrecken aber davor zurück, über Krebs zu sprechen.

Am Patienteninteresse orientieren

Konkret sollte zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose eine offene Kommunikation über anhaltende physische und sexuelle Änderungen erfolgen und die Auswirkungen der onkologischen Therapie auf Sexualität und Aussehen besprochen werden. Auch ein psychologischer Support kann angeboten werden. Zu welchen Themen sich Patienten professionelle Hilfe wünschen, ist im folgenden Kasten zusammengefasst.

Patienten wünschen sich eine Diskussion über:

  • Physische Veränderungen durch die Therapie
  • Information zu Veränderungen des Köpers während der Therapie: Haarverlust, Unfruchtbarkeit und verminderte Spermienzahl, sexuelle Dysfunktion, Verlust der Libido, Wiederaufnahme der sexuellen Aktivität, frühe Menopause
  • Einfluss von Fatigue auf die Sexualität
  • Vorbereitung auf den Verlust einer Brust, Umgang mit sexuellen Wünschen, Veränderung der Emotionen über sich selbst und andere, Sorgen über Partner/Beziehung, Selbstachtung
  • Empfehlung von (Selbsthilfe-)Programmen zu sexueller Gesundheit und Literatur

Für Ärzte und Pflegpersonen sollte bei einem Gespräch das Interesse des Patienten im Vordergrund stehen. Für manche Menschen hat Sex oberste Priorität. Das kann so weit gehen, dass sie sich weigern, eine lebensnotwendige Operation durchführen zu lassen, wenn ein Funktionsverlust die Folge sein könnte. Männer sind hier stärker betroffen als Frauen. Für andere ist das Thema weniger wichtig oder es ist vor allem für den Partner relevant. Sexualität sollte daher so lange als wichtig eingestuft werden, bis der Patient das Gegenteil behauptet, empfiehlt Reisman.
Selbst im palliativen Stadium ist die Auseinandersetzung mit dem Thema angebracht. Reisman berichtet von einer 74-jährigen Witwe deren Mann vor Kurzem an einem hepatozellulären Karzinom verstarb. Noch in den letzten Monaten war die Beziehung von sexueller Aktivität geprägt, was unter anderem den Umgang mit der Erkrankung erleichterte.

Fachlich aufrüsten

Reisman empfiehlt Ärzten, Pflegepersonen und Psychotherapeuten, dem Thema erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Sinnvoll sei, das theoretische Wissen über Sexualität bzw. den Einfluss einer Krebserkrankung darauf sowie das Wissen über die Rolle des Partners zu verbessern. Eigene Überzeugungen, Stereotypen und Limitationen sollten bewusst gemacht und der Widerstand über Sex zu sprechen überwunden werden. (Multidisziplinäre) Team-Meetings sowie Supervision sind weitere Schritte.
Ist eine umfassende sexualmedizinische Beratung notwendig, die über den eigenen Kompetenzbereich hinausgeht, kann die Zuweisung an Sexualmediziner oder Sexologen erfolgen (keine Leistung der Krankenhasse).
Die Österreichische Krebshilfe bietet PatientInnenen einmal im Monat kostenbefreite Beratungstermine mit der Expertin Dr. Lucia Ucsnik, Universitätsklinik für Chirurgie, Wien. Sie ist Mitinitiatorin der Forschungsplattform „Sexual Health in Cancer Patients“ und berichtet von positiven Erfahrungen in den Beratungsgesprächen: „Patienten bekommen strahlende Augen und sind sehr dankbar, weil man sie als ganze Person wahrnimmt und behandelt. Es macht wirklich Freude, oftmals mit nur kleinen Interventionen und Informationen weiterzuhelfen.“

Beratungsangebot

Über ein Service der Österreichischen Krebshilfe kann unter der kostenlosen Krebs-Hotline ein persönlicher Gesprächstermin mit Dr. Lucia Ucsnik, Universitätsklinik für Chirurgie Wien, vereinbart werden. Tel.: 0800/699 900.
Ucsnik ist Expertin für Sexualmedizin und Fellow der Europäischen Gesellschaft für Sexualmedizin. Sie ist seit 2014 im Rahmen ihrer chirurgischen Ausbildung forschend an der Universitätsklinik für Chirurgie und am Comprehensive Cancer Center Vienna der MedUni Wien tätig und Mitinitiatorin der Forschungsplattform „Sexual Health in Cancer Patients“.

Literatur

springer

Dr. Yacov Reisman, PhD, FECSM, Direktor des Niederländischen Zentrums für Sexualmedizin und President Elect der Europäischen Gesellschaft für Sexualmedizin, ist Urologe und Experte für Sexualmedizin. Er hat gemeinsam mit Woet L. Gianotten im Februar 2017 das Buch „Cancer, Sexuality and Intimacy“ herausgegeben, in dem die körperlichen, psychischen und sozialen Aspekte der sexuellen Gesundheit bei KrebspatientInnen praxisbezogen aufgearbeitet werden.

Cancer, Sexuality and Intimacy. A Practical Approach.
Herausgegeben von Reisman Yacov, Gianotten Woet L; Springer 2017
ISBN: 978-3-319-43193-2

Quelle: „Sexual Health in Cancer Patients“, Impromptu Seminar des Comprehensive Cancer Center Vienna, Wien, 20. April 2017

Referenzen:
1 Mitchell AJ et al., Lancet Oncol 2011; 12:160-74
2 Southard NZ et al., Clin J Oncol Nursing 2009
3 Sadovsky R et al., J Sex Med 2010; 7:349-73