21. März 2018

MT50: Milch aus der Mikrowelle (15/1990)

Drama pur! Pädiater Prof. Dr. Gert Lubec untersuchte in seiner Studie die Erwärmung von Milch am Herd und in der Mikrowelle. Nach zehnminütiger Erhitzung verglich er die Beschaffenheit der Aminosäuren und schockierte mit dem Ergebnis etliche Eltern: Die Aufspaltung des Milcheiweißes bei Mikrowellenbehandlung veränderte die Säuren so stark, dass es bei Verzehr sogar zu Leber- und Nierenschäden kommen könne! Von MT angeheuerte Pharmakologen der Uni Ulm konnten dies jedoch im Handumdrehen widerlegen. Außerdem meinten sie: „Wer malträtiert denn auch schon zehn Minuten lang Milch?“

Folgender Artikel erschien am 12. April 1990:

Ein Wiener Kinderarzt warnt: „Milch aus der Mikrowelle ist giftig!“

Was ist dran an dieser Meldung?

WIEN – Mikrowellen haben angeblich die Eigenschaft, die Eiweißzusammensetzung von Milchprodukten so zu verändern, daß dabei Isomere von Aminosäuren entstehen, die z. T. toxisch sind. Werden nun Milchprodukte in handelsüblichen Mikrowellenherden erwärmt, können Aminosäuren bei gleichbleibender Summenformel optisch „umgedreht“ werden. Eine derartige Umwandlung sei jedoch nicht unbedenklich, wenn diese „abnormalen“ Aminosäuren zum Aufbau von Proteinen und Peptiden im Körper verwendet werden, konnte man unlängst einer renommierten Fachzeitschrift entnehmen.

Wie der Wiener Professor und Pädiater Dr. Gert Lubec jüngst im „Lancet“ berichtete, hat er Milchprodukte in einem Mikrowellenherd 10 Minuten lang erhitzt. Zum Vergleich hat er dieselben Milchprodukte auch auf einem normalen Herd erwärmt. Chromatographisch und spektrometrisch konnte er dann nachweisen, daß sich ausschließlich in den im Mikrowellenherd erwärmten Milchprodukten cis-Formen von Hydroxyprolin sowie D-Proline in einer Konzentration von 1 bis 2 mg/l befanden. In den konventionell erwärmten Milchprodukten fanden sich derartige Isomere nicht. Da bekannt sei, daß D-Prolin neuro-, hepato- und nephrotoxische Wirkungen aufweist, fordert Prof. Lubec weitere Untersuchungen, da diese Aspekte der Mikrowellen noch ungenügend erforscht seien.

Quelle: G. Lubec, Chr. Wolf, B. Bartosch, Universitäts-Kinderklinik, Wien; The Lancet (1989), No. 8676, Vol. 2, S. 1392 bis 1393

MT hakte nach

Die Studie von Prof. Lubec hat inzwischen weltweit zu allerlei Aufregung und Besorgnis geführt. Mütter bangen um ihre Babys, denen sie im Mikrowellenherd erhitzte Milch zu trinken gaben. Besorgte Medical Tribune-Leser fragten in der Redaktion an, inwieweit die Warnung wissenschaftlich haltbar ist. Medical Tribune bat daraufhin Privatdozent Dr. Klaus Gietzen, Abteilung Pharmakologie und Toxikologie der Universität Ulm, um eine kritische Würdigung der Publikation im „Lancet“. Und was dabei herauskam, ist mehr als beruhigend – es kann entwarnt werden!

Lesen Sie hier seine Abschätzung des Gesundheitsrisikos von mikrowellenerhitzten Nahrungsmitteln.

Rechnen Sie doch mal nach!

Lubec und Mitarbeiter berichteten kürzlich, daß Erhitzung von Babymilchzubereitungen („milk formula“) mittels Mikrowellen über 10 Minuten zu einer Isomerisierung von Aminosäuren führt, die bei Erhitzung der Milch im Wasserbad (bei 80°C für 10 Minuten) nicht aufgetreten ist. Bei dieser Isomerisierung werden einerseits die in Proteinen hauptsächlich vorkommenden L-Aminosäuren in die entsprechenden D-Isomere und andererseits 3-trans- und 4-trans-Hydroxyprolin in die 3-cis- und 4-cis-Isomeren überführt. Cis-Isomere des Hydroxyprolins wurden dabei in Konzentrationen von 1 bis 2 mg/l Milchzubereitung gefunden. Im Bericht von Lubec und Mitarbeitern wird die Konzentration des entstandenen D-Prolins nicht angegeben. Auf Anfrage teilte Lubec jedoch mit, daß die Konzentration von D-Prolin noch höher sei als die der cis-Isomeren des Hydroxyprolins und daß auch D-Isomeren der anderen Aminosäuren festgestellt worden seien, was nicht mehr als logisch ist.

Auch Fleisch enthält D-Aminosäuren

Die entstandenen Isomerisierungsprodukte 3-cis- und 4-cis-Hydroxyprolin bergen nach der Darstellung von Lubec et al. die Gefahr eines fehlerhaften Kollagenaufbaus in sich, der zu einer Destabilisierung des Kollagen-Tripelhelix führen soll (es wären dann negative Auswirkungen z. b. auf Gelenkknorpel, Gefäße, Nieren oder Haut zu befürchten). Tatsächlich fanden Uitto und Prockop bei der Untersuchung der Prokollagensynthese an Zellkulturen in Gegenwart von 1,53 mM cis-Hydroxyprolin, daß 13 bis 19 % der Prolinmoleküle durch solche des cis-Hydroxyprolins ersetzt wurden. Bei der ausschließlichen Ernährung eines Babys mit Milch, ist jedoch höchstens eine Plasmakonzentration von 0,2 µM zu erwarten, die bei weitem (um mehr als 3 Zehnerpotenzen) unter der kritischen Schwelle für einen Einbau von cis-Hydroxyprolin liegt.

Folgende Überlegung führt dabei zur Abschätzung der Plasmakonzentration von cis-Hydroxyprolin: 1 Liter Babymilchzubereitung enthält etwa 1,5 Gramm Prolin, was sich leicht aus dem Proteingehalt der Milchzubereitung (etwa 15 g/l) und dem Prolingehalt des zugrundeliegenden Kuhmilchproteins (9,8 %) errechnen läßt. Die bei der Erhitzung der Milch durch Mikrowellen entstehenden 1 bis 2 mg cis-Hydroxyprolin pro Liter machen demnach nur etwa 1 Promille der enthaltenen Prolinmenge aus, und entsprechend gering ist auch das Verhältnis cis-Hydroxyprolin zu Gesamtprolin im Plasma anzusetzen. Aus diesem Verhältnis 1:1000 und der relativ stabil regulierten Plasmakonzentration des Prolins von 23,6 mg/l = 210 µM, ist eine Plasmakonzentration von maximal 0,2 µM cis-Hydroxyprolin zu erwarten.

Selbst bei der normalen In-vivo-Proteinsynthese wird praktisch kein Hydroxyprolin in die Peptidkette eingebaut, obwohl trans-Hydroxyprolin im Plasma in einer Konzentration von 20 µM gegenwärtig ist. Die Hydroxyproline in Proteinen entstehen erst durch enzymatische Hydroxylierung bereits in die Peptidkette eingebauter Prolinmoleküle. Da die Plasmakonzentration der cis-Hydroxyproline nach Genuß  von mikrowellenerhitzter Milch, wie oben erwähnt, nur maximal 0,2 µM beträgt, ist deren Einbau in Proteine noch weniger wahrscheinlich.

Vom ebenfalls bei der Mikrowellenbehandlung der Milch entstandenen D-Prolin befürchten Lubec et al. Neurotoxizität, Nephrotoxizität und Hepatotoxizität. Die nephro- und hepatotoxischen Wirkungen wurden jedoch bei Fütterung von Versuchstieren mit exzessiven Dosen von D-Prolin erzielt. Dies scheint nur logisch, da selbst die L-Aminosäure Tryptophan, in Dosen von 3 bis 5 Gramm/Tag über längere Zeit gegeben, schwerwiegende Nebenwirkungen hervorruft. L-Tryptophan darf deshalb bei depressiven Syndromen nicht mehr gegeben werden.

Die Furcht vor neurotoxischen Wirkungen des D-Prolins bei oraler Aufnahme ist gänzlich unbegründet, da trotz einer Prolin-Plasmakonzentration von 210 µM nur Spuren von Prolin im Liquor cerebrospinalis vorkommen. Die neurotoxischen Wirkungen, auf die sich Lubec et al. berufen, konnten nur durch intraventrikuläre Applikation hoher Dosen D-Prolin bei 2 bis 5 Tage alten Küken erzielt werden. Bei oraler Aufnahme von D-Aminosäuren, dies gilt auch für D-Prolin, werden diese rasch durch die D-Aminosäure-Oxidase, ein Enzym mit geringer Substratspezifität, zu den entsprechenden α-Ketosäuren umgesetzt, die durch weitere Metabolisierung entweder zu wertvollen Metaboliten bzw. in Energie umgesetzt werden. Wir nehmen kontinuierlich D-Aminosäuren, die aus unserer täglichen Nahrung bzw. aus dem Abbau der Bakterienzellwand stammen, scheinbar ohne Schaden auf und metabolisieren diese Substanzen wie oben beschrieben. Selbst unbehandeltes Sojaprotein, Rohmilch, rohes Fleisch von Rind oder Hähnchen enthalten größere Mengen D-Aminosäuren, deren Gehalt durch herkömmliche Nahrungszubereitung (Rösten, Braten, Backen etc.) oft dramatisch ansteigt.

Wer kocht schon 10 Minuten lang Milch?

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß bei oraler Aufnahme von keinem der bei Mikrowellenbehandlung der Milch beschriebenen Isomerisierungsprodukte, cis-Hydroxyprolin und D-Prolin, gesundheitsschädliche Wirkungen zu erwarten sind. Nicht einmal dann, wenn man die Milch unnötigerweise, wie in den Experimenten von Lubec et al. 10 Minuten im Mikrowellenherd malträtiert.

Literaturverzeichnis durch die Redaktion erhältlich.


Warnung: Milch nie in die Mikrowelle

Milch sollte nicht im Mikrowellenherd erhitzt werden, warnt Dr. Ludwig Lubec von der Uni-Kinderklinik Wien. Weil Mikrowellen das Milcheiweiß in Aminosäuren aufspalten. Die Säuren werden dabei so stark verändert, daß sie möglicherweise Leber-, Nieren- und Nervenschäden verursachen können.

Nachrichten wie diese aus der BUNTEN verschreckten bundesweit deutsche Hausfrauen. MT wollte wissen: Was ist wirklich dran an diesen Meldungen? Antwort: Viel Lärm um nichts!

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune