28. Feb. 2018

Kompletter Zahnausfall im Jugendalter

FALL – Über 50 Jahre musste ein Patient warten, bis seine (Seltene) Krankheit endlich diagnostiziert war. Ein Erfolg, der vor allem der interdisziplinären Zusammenarbeit am Zentrum für Seltene Krankheiten Innsbruck (ZSKI) zu verdanken ist. (Medical Tribune 09/18) 

Ines Kapferer-Seebacher schildert die Hauptmerkmale des parodontalen Ehlers-Danlos-Syndroms – Verfärbungen an den Schienbeinen und eine schwere, frühe Parodontitis.
Ines Kapferer-Seebacher schildert die Hauptmerkmale des parodontalen Ehlers-Danlos-Syndroms – Verfärbungen an den Schienbeinen und eine schwere, frühe Parodontitis.

Per Definition sind Seltene Krankheiten solche mit einer Prävalenz die kleiner ist als 1:2000. Und dann gibt es die wirklich seltenen Krankheiten, bei denen es weltweit nicht mehr als einige hundert Betroffene gibt. Ein parodontales Ehlers-Danlos-Syndrom (pEDS) fällt in diese Kategorie. Angefangen hat es beim heute 70-jährigen Josef Raggl mit häufigem Nasenbluten in der Kindheit, mit acht Jahren hatte er bereits eine Teilprothese, mit 14 entschied sein bemühter Zahnarzt, dass die Zähne nicht zu retten sind. Es folgten ein Trommelfellriss, ein Leistenbruch, drei Mal ein Lungenriss, spontan, ohne körperliche Anstrengung.

Josef Raggl wurde zum Risikopatienten erklärt und erst vor zwei Jahren bekam sein Leiden einen Namen – pEDS. Dazu brauchte es in Prof. Dr. Ines Kapferer-Seebacher eine aufmerksame Ärztin an der Innsbrucker Zahnklinik, die Raggls Krankengeschichte dem Zentrum für Seltene Krankheiten Innsbruck (ZSKI) vorstellte. Dieses interdisziplinäre Team trifft sich einmal im Monat und wurde von der Pädiaterin Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall ins Leben gerufen. Einige Fachrichtungen sind bei den monatlichen Treffen immer dabei, darunter der Humangenetiker Univ.-Prof. Dr. Johannes Zschocke, bei Bedarf werden fehlende Fachrichtungen beigezogen.

19 Familien gefunden

15 Angehörige von Josef Raggl, aus verschiedenen Generationen, alle mit ähnlichen, wenn auch weniger ausgeprägten Symptomen, stellten Blutproben zur Verfügung. Zschocke gelang es, ein Gen ausfindig zu machen, das als Verursacher infrage kam. „Wir haben dann in der ganzen Welt herumgefragt, ein internationales Konsortium gegründet und tatsächlich 19 Familien mit 80 Personen gefunden und die vermutete Diagnose beweisen können“, sagt Zschocke. Josef Raggl hat jetzt eine Diagnose mit einem unaussprechlichen Namen, eine Diagnose, die ihm auf den ersten Blick nichts hilft, weil es keine Behandlung gibt. Trotzdem ist es eine Erleichterung und Raggl ist auch optimistisch, dass „die Wissenschaft irgendwann etwas finden wird, die Krankheit zu behandeln, auch wenn ich das sicher nicht mehr erleben werde“.

Daniela Karall, Ines Kapferer-Seebacher, Josef Raggl und Johannes Zschocke.
Daniela Karall, Ines Kapferer-Seebacher, Josef Raggl und Johannes Zschocke.

Vermutlich kam es zur zufälligen Mutation des genannten Gens in Raggls Familie bereits vor einigen Generationen. Geschlechtsunabhängig liegt die Wahrscheinlichkeit, ein normales oder das mutierte Gen (und damit die Krankheit) erblich weiterzugeben, bei 50 Prozent Inzwischen gibt es ein FWF-gefördertes Forschungsprojekt, wobei Zschocke betont, dass die von Innsbruck ausgegangene Initiative bereits dazu geführt hätte, dass „die Klassifikation der wichtigsten erblichen Bindegewebsstörung neu geschrieben wurde“. Das Forschungsprojekt bemüht sich nun um die nächsten Schritte – denn die Bestimmung des für die Krankheit verantwortlichen Gens, sagt noch nichts über die Pathogenese.

Von sechs bis 100 Zähnen

Kapferer-Seebacher hebt hervor, dass es zirka tausend Seltene Erkrankungen gibt, die sich an den Zähnen zeigen oder manifestieren. Manche sind zweifellos erkennbar, etwa bei einer Erkrankung, bei der bis zu hundert Zähne angelegt werden. Kinder mit einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie haben nur sechs Zähne, zu wenig Haare, können nicht schwitzen und brauchen schon im Kindergartenalter eine Totalprothese. Beim paradontalen Ehlers- Danlos-Syndrom sind die Zähne eigentlich gesund, aber Betroffene bekommen im Teenageralter eine Parodontitis. Wie bei der „Volkskrankheit Parodontitis“ wird der Knochen abgebaut, und sobald dieser Abbau bis zur Wurzelspitze reicht, fällt der Zahn aus. Beim pEDS fallen die Zähne meist mit Anfang 20 aus, betont Kapferer- Seebacher. Wird die Krankheit früh genug erkannt, kann eine schon im Kindesalter begonnene „ganz strikte, perfekte Mundhygiene“ die Zähne bis manchmal ins fünfte Lebensjahrzehnt erhalten.

Kapferer-Seebacher nennt noch ein gewichtiges Argument, sich mit Seltenen Erkrankungen zu beschäftigen: Behandlungs- und Forschungsergebnisse liefern Erkenntnisse für häufige Erkrankungen, im Fall von pEDS also für die Parodontitis. Sie weiß auch von einer Familie, in der die Kinder „regelmäßig vom Zahnarzt ausgeschimpft wurden, dass sie zu schlecht Zähne putzen und selbst schuld sind, wenn sie alle Zähne verlieren. Das war eine extreme psychische Belastung. Als diese Kinder erfahren haben, dass sie nicht selbst schuld sind, brachen sie in Tränen aus.“ Deshalb lautet Kapferer-Seebachers Botschaft an niedergelassene Kollegen: wenn man etwas Ungewöhnliches bei Patienten sieht, sich an ein Zentrum zu wenden, das über die entsprechenden Mittel verfügt.

Immer am 29. Februar

Mit dem 29. Februar wurde ein seltener Tag zum „Tag der Seltenen Krankheiten“ bestimmt. Heuer musste dieser Tag aus kalendarischen Gründen auf den 28. Februar vorverlegt werden. Am ZSKI ist man mit den Fortschritten der letzten Jahre zufrieden. Die Vernetzung und Interdisziplinariät am Standort Innsbruck aber auch national entwickelt sich gut. Das Bewusstsein und das Wissen über Seltene Krankheiten nehmen zu“, betont Karall. Sie erinnert auch daran, dass zwar die einzelnen Krankheiten selten sind, in Summe aber fünf Prozent der Bevölkerung von einer Seltenen Krankheit betroffen sind.

 

Teilerfolge für Nationalen Aktionsplan Seltene Krankheiten

Medical Tribune: Der Nationale Aktionsplan für Seltene Erkrankungen wurde für die Jahre 2014 bis 2018 ausgegeben. Wie sieht eine vorläufige Bilanz aus?

Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall Innsbrucker Kinderklinik, Gründungsmitglied des Zentrums für Seltene Krankheiten Innsbruck (ZSKI)
Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall
Innsbrucker Kinderklinik, Gründungsmitglied des Zentrums für Seltene Krankheiten Innsbruck (ZSKI)

Daniela Karall: Die Kommission, die sich mit dem Entwurf und der Verabschiedung des Aktionsplans beschäftigt hat, war beim Gesundheitsministerium angesiedelt. Sie hat sich weiter regelmäßig getroffen, um die Umsetzung der neun Module des Plans zu verfolgen. Einige Module wurden umgesetzt, andere sind in der Bürokratie hängen geblieben.

Was bewerten Sie als Erfolg?

Die Patientenseite ist gut gelungen, dazu gehört die Vernetzung der Patientenorganisationen. Menschen mit besonderen Bedürfnissen im Notfall, wo der Notarzt bestimmte Dinge wissen oder beachten muss, haben eine Notfallkarte, die vermutlich demnächst in der ELGA abgebildet werden kann.

Wo hakt es bei der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans?

Es schmerzt, dass die Designation von Expertisezentren, die EUweit Voraussetzung ist für die Teilnahme an europäischen Referenznetzwerken ist, noch etwas in der Bürokratie hängt. Es gibt in Österreich nur zwei offiziell registrierte Zentren*, die als Pilotprojekt gelaufen sind, aber es bedarf wahrscheinlich um die 40 Zentren, um international dabei zu sein. Die europäischen Referenznetzwerke, zu denen wir Kontakt haben, sagen, wir kennen euch seit Jahrzehnten, aber offiziell dürfen wir euch nicht als Partner ins Referenznetzwerk aufnehmen.

Welche Aufgaben erfüllt das Forum Seltene Krankheiten**?

Das Forum ist ein 2011 gegründeter gemeinnütziger Verein, anfangs in Zusammenarbeit von Innsbrucker und Salzburger Kollegen. Es bietet eine Organisationsstruktur zur Vernetzung aller an Seltenen Krankheiten Interessierten. Inzwischen sind die Aktivitäten österreichweit und das Forum ist vom Beirat im Gesundheitsministerium 2016 beauftragt worden, die Kongresse für Seltene Erkrankungen zu organisieren.

Wieso betreffen die Hälfte aller Seltenen Erkrankungen Kinder?

80 Prozent aller Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt, also angeboren. Wenn ein Gen schwer betroffen ist, tritt die Krankheit früher auf, deswegen entwickeln sich erste schwere Fälle häufig im Kindesalter. Die angeborenen Stoffwechselstörungen – das ist mein Urfachgebiet – gehören alle in die Gruppe der Seltenen Erkrankungen. Es hat sich daher ergeben, dass als Träger für den Verein Forum Seltene Krankheiten die Haut- und Kinderkliniken aus Salzburg und Innsbruck und die Humangenetik Innsbruck aufgetreten sind. Mildere Formen von Stoffwechselstörungen können im Kindesalter unerkannt vorbeigehen und die Symptome werden dann erst später erkannt.

* Die beiden derzeit einzigen österreichischen Expertisezentren sind das Zentrum für Hämato-Onkologie am St. Anna Kinderspital in Wien und das EB-Haus in Salzburg für Schmetterlingskinder
** Forum Seltene Krankheiten www.forum-sk.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune