Pflege: Viel Bedarf, wenig Anerkennung

PFLEGE – 80 Prozent der in Österreich tätigen Pfleger(innen) kommen aus der Slowakei oder Rumänien. Dort sind Pflegekräfte indes knapp. Experten fordern ein koordiniertes Vorgehen auf europäischer Ebene und Qualitätsstandards. (Medical Tribune 45/17)

Immer mehr Menschen sind mit dem Thema Pflege – aktiv wie passiv – konfrontiert.
Immer mehr Menschen sind mit dem Thema Pflege – aktiv wie passiv – konfrontiert.

„Ich führte jahrelang zwei Leben, kam mit dem Privatjet aus New York zurück, wo ich in den besten Hotels übernachtet hatte, und fuhr direkt aufs Land, nach Waidhofen an der Ybbs, wo ich mich in die Jogginghose schmiss und Holz hackte.“ Margit Hermentin hat schon in jungen Jahren einiges erlebt. Was wie ein Teilzeit-Aussteiger-Szenario klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Die einstige Managerin (Hermentin war unter anderem Investor-Relations-Verantwortliche des börsennotierten Immofinanz-Konzerns) hat ihre Großmutter gepflegt. Neun Jahre lang. Trotz eines herausfordernden Berufes in der Finanzbranche.

„Haben alles durchgemacht“

„Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen und hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Oma“, sagt Hermentin und erinnert sich an die letzten Jahre im Leben ihrer Großmutter: „Wir haben alles durchgemacht, zuletzt hatte sie Schluckstörungen. Ich habe zuerst alles selbst gemacht, dann eine 24-Stunden-Pflege organisiert.“ 2010 ist ihre Großmutter schließlich im 89. Lebensjahr gestorben. Doch Hermentin kehrte letztendlich nicht mehr in ihr altes Leben zurück. Im Gegenteil: Sie wandte dem Big Business den Rücken und gründete 2012 mit ihren beiden besten Pflegerinnen eine Agentur. „Vielleicht war es auch Teil meiner Trauerarbeit. Jedenfalls wollte ich etwas Sinnvolles tun“, sagt sie, und immer wenn sie über ihre Arbeit spricht, leuchten ihre Augen. „Ich war oft sehr verzweifelt, wenn ich keine geeignete Pflegerin für meine Oma gefunden habe. Genau das war der Grund, warum ich die 24-Stunden-Pflegevermittlung gegründet habe.“

Margit Hermentin Gründerin und Geschäftsführerin von gutbetreut.at
Margit Hermentin
Gründerin und Geschäftsführerin von gutbetreut.at

Hermentin ist Eigentümerin der Agentur gutbetreut.at und vermittelt inzwischen fast 350 Pflegerinnen an rund 170 Patienten, vorzugsweise in Wien und Niederösterreich. Sie bietet ein „Rund-um-Paket“ an, hilft unter anderem auch beim Einreichen des Pflegegeldes. Sie selbst ist für die Kunden 24 Stunden am Tag erreichbar und kommt nach eigenen Angaben auf eine 60-Stunden-Woche. „Mein Beruf ist meine Berufung – ich habe es nie für möglich gehalten, dass es so etwas gibt“, sagt sie. Nachsatz: „Geld zu verdienen war nie meine Triebfeder.“ Dennoch laufen die Geschäfte gut, Businesspläne wurden in kürzester Zeit übertroffen. „Ich merke, dass die Nachfrage extrem steigt“, sagt die Unternehmerin. Die Wissenschaft untermauert ihre Eindrücke. „Wir stehen vor großen demografischen Herausforderungen“, sagt Dr. Ulrike Famira-Mühlberger, die für das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO eine Studie erstellt hat. Bis 2050 wird sich der Anteil der Menschen, die über 80 Jahre alt sind, verdoppeln – von fünf Prozent der Bevölkerung im Jahr 2015 auf 11,5 Prozent.

Strukturelle Defizite

Gleichzeitig wird es einen fortdauernden Rückgang der informellen Pflege geben, weil es im Verhältnis weniger Junge geben wird, mehr Singlehaushalte und eine höhere Frauenbeschäftigung. Dementsprechend explodieren werden die Kosten für Pflege- und Betreuungsdienste, selbst wenn eine bis dahin zu erwartende gewisse Verbesserung der allgemeinen Gesundheit miteinberechnet wurde. Laut der WIFO-Studie, die Famira-Mühlberger vor Kurzem auch auf einer Veranstaltung der Gesundheit Österreich GmbH präsentierte, werden die Kosten entsprechend explodieren. Jene für Pflegedienstleistungen würden laut den Wirtschaftsforschern bis 2050 gegenüber 2015 um 360 Prozent steigen – auf neun Milliarden Euro. Netto, wohlgemerkt, also abzüglich der privaten Beiträge. Das Pflegegeld wird indes von 2,8 Milliarden Euro um 67 Prozent auf 4,2 Milliarden Euro steigen. Die Frage nach der Finanzierung drängt sich auf, zumal die Politik ja eine Tendenz zum Sparen hat und zuletzt bereits private Investoren auf den Plant traten. Wie berichtet sind etwa Pflegeimmobilien für diese von zunehmendem Interesse, in Deutschland haben sogar amerikanische Hedgefonds schon Heimbetreiber übernommen.

„Es geht aber nicht nur um die Finanzierung, es ist auch eine Frage der Struktur“, gibt der Chef der Gesundheit Österreich, Dr. Herwig Ostermann, zu bedenken und spielt damit auf die prekäre Situation beim Personal an. Etwa 80 Prozent der in Österreich tätigen Pflegerinnen und Pfleger kommen aus Rumänien oder der Slowakei. In Rumänien selbst sind Pflegekräfte hingegen knapp. Dieses Problem wurde auch am European Health Forum, das erst kürzlich in Bad Gastein über die Bühne gegangen ist, angesprochen. Dr. Marius-Ionut Ungureanu, Public-Health-Experte der Universität Babeş-Bolyai in Cluj, sprach die „unkontrollierte Mobilität und Migration der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen“ als eine Herausforderung an, die auf europäischer Ebene diskutiert werden müsse. Ostermann sieht das genauso: „Wir müssen uns bemühen, die Planung von Gesundheitsberufen auf europäischer Ebene zu koordinieren.“ Ausbildungsinhalte würden in der Planung einen wichtigen Aspekt darstellen, auch die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden.

85.000 Personenbetreuer

Dem wiederum stimmt auch Hermentin zu, deren Pflegerinnen aus der Slowakei kommen. „Die Wertschätzung für den Beruf ist in Österreich zu gering.“ Die Unternehmerin fordert auch Qualitätsstandards ein. „In meiner Funktion als Mitglied des Fachgruppenausschusses für den Bereich Personenberatung und Personenbetreuung in der Wirtschaftskammer engagiere ich mich seit mehreren Jahren für die Einführung von Qualitätsstandards für Vermittlungsagenturen, um die Betreuungsbedingungen für Patienten und PflegerInnen zu verbessern.“ Es gebe in Österreich mehr als 85.000 selbstständige Pflegekräfte und 700 Vermittlungsagenturen, aber nicht alle würden Mindeststandards erfüllen. „Pflegerinnen gibt es genug, aber Leute mit guter Qualifikation und Erfahrung zu finden, ist nicht so leicht,“ sagt Hermentin, die mit niedergelassenen Ärzten zusammenarbeitet: „Ärzte arbeiten gerne mit uns und sind sehr kooperativ. Letztendlich entlasten wir die Hausärzte ja auch.“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune