Public-Health-Zeitreise durch die letzten 30 Jahre

Im Gespräch mit medONLINE.at zeigte Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Dorner, MPH, Zentrum für Public Health an der MedUni Wien, die Entwicklung, die das Fach seit der Ottawa Charta 1986 bis heute nahm. Noch immer ist nicht in allen Köpfen angekommen, was Health in all Policies heißt.

Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Dorner, MPH
Assoc.-Prof. Priv.-Doz.
Dr. Thomas Dorner, MPH

 

medONLINE: Die Vienna Declaration, ein von Public-Health-Experten erarbeiteter Leitfaden für mehr Gesundheit für alle, wurde 2016 herausgegeben. 30 Jahre zuvor wurde die Ottawa Charta von der ersten internationalen Konferenz für Gesundheitsförderung der WHO herausgegeben. Was ist das Ziel dieser Chartas?

 

Dorner: In der Ottawa Charta von 1986 wurde erstmals Gesundheitsförderung gut definiert, und es wurden die Voraussetzungen für Gesundheit aufgelistet. Einer der Punkte betrifft die Möglichkeiten, die die Gesundheitsförderungs-Community hat, um Gesundheit für alle zu erreichen.
Die Vienna Declaration, die an die Public-Health-Community gerichtet ist, ist ähnlich aufgebaut: Auch hier werden Voraussetzungen für Gesundheit dargestellt, aber nicht nur aufgelistet, sondern auch spezifischer aufgezeigt, was es für Gesundheit braucht. In den Schlussworten ist verankert, was die Public-Health-Community dazu beitragen kann und muss, damit Gesundheit für möglichst alle erreicht werden kann. Dabei geht es zum Teil darum, dass die Forschungsergebnisse zur Anwendung kommen. Es geht aber auch darum, darauf hinzuweisen, wenn Evidenz zu einem nachteiligen Effekt von Entscheidungen vorliegt, die in der Community oder auch in der Politik getroffen werden. Als Public-Health-ExpertInnen müssen wir also Verantwortung für Wissenschaft und Gesellschaft übernehmen.

 

Finden Sie in der Politik Gehör mit diesen Hinweisen?

 

Dorner: Immer wieder ja, manchmal nein. Aber davon darf man sich nicht entmutigen lassen und muss weiter darauf hinweisen, was vernünftig ist und wie die wissenschaftliche Beweislage ist.

 

Was sind die größten Unterschiede in der Gesundheitsförderung vor 30 Jahren und jetzt?

 

Dorner: Vor 30 Jahren ist Gesundheitsförderung neu entstanden und war eine große Spielwiese, wo ausprobiert wurde, was funktioniert und was nicht. Teilweise wurde versucht, Dinge unterzubringen, die zwar mit Gesundheit zu tun haben, aber sonst in keinem Bereich untergebracht werden konnten. Das hat sich geändert: Heute gibt es eine große Evidenz darüber, was Gesundheitsförderung ist.
Früher war Gesundheitsförderung ein „Nice-to-have“. 30 Jahre Gesundheitsförderungsforschung haben gezeigt: Gesundheitsförderung hat Effekte; dort wo sie stattfindet, entwickelt sich die Gesundheit der Gesellschaft viel besser weiter als dort, wo sie nicht stattfindet. Gesundheitsförderung ist heute also ein „Must-have“. Wir als Public-Health-ExpertInnen müssen auch darauf hinweisen und Gesundheitsförderung dort einfordern, wo sie nicht stattfindet.
30 Jahre Gesundheitsförderungsforschung haben nicht nur gezeigt, was effektiv ist, sondern auch, was nicht wirkt. Dadurch konnte sich die Evidence-based Health Promotion entwickeln.

 

Für welche Bereiche besteht die größte Evidenz?

 

Dorner: Natürlich bei den klassischen verhaltensbasierten Risikofaktoren wie Rauchen und Alkohol. Aber Gesundheitsförderung geht weit über verhaltensbezogene Risikofaktoren hinaus. Die Ottawa Charta zeigte bereits federführend, dass Gesundheitsförderung auch eine gesellschaftliche Verantwortung ist, nicht nur eine individuelle.
Es geht auch darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit für jeden Menschen die Entscheidungen für einen gesunden Lebensstil leichter fallen. Hier ist Health in all Policies gefragt. Gesundheitsförderung spielt sich schließlich nicht nur im gesundheitspolitischen Ressort ab, sondern es sind alle politischen Felder gefragt. Wenn es beispielsweise darum geht, dass sich Menschen mehr bewegen sollen, müssen sichere Geh- und Radwege, oder auch Duschen am Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden, um MitarbeiterInnen dazu zu motivieren, den Weg dorthin sportlich zurückzulegen. So wird signalisiert, dass mehr Bewegung kulturell erwünscht ist.
Höchst problematisch ist, dass wir als Gesellschaft teilweise Signale senden, die vermitteln, dass Rauchen gar nicht so schlimm sei. Wird in Österreich als einem der wenigen Länder Rauchen in der Gastronomie nicht verboten, geht es nicht nur um NichtraucherInnenschutz, sondern auch darum, dass eine Kultur beeinflusst wird. So kommt es, dass Österreich eines der wenigen Länder ist, wo in Subgruppen – nämlich jener der jungen Frauen – die RaucherInnenprävalenz steigt. In allen anderen Ländern sinkt die Prävalenz. Das ist also sicher eine Herausforderung für Public Health, die wir noch meistern müssen.

 

Wie gut verankert ist Public Health in den Köpfen junger MedizinerInnen? Wie viel Public-Health-Wissen brauchen MedizinerInnen?

 

Dorner: Im medizinischen Curriculum der MedUni Wien zieht sich das Thema Public Health durch alle Semester hindurch. Auch das Klinisch-Praktische Jahr kann teilweise im Public-Health-Zentrum absolviert werden.
Im 7. Semester gibt es einen sehr ausgeprägten Block zu Public Health, den ich selbst koordinieren darf. Hier wird gelehrt, wie das Gesundheitssystem aufgebaut ist, wie ein Gesundheitssystem generell funktioniert; wer die Player und die Stakeholder sind; wo der Platz der MedizinerInnen als LeistungsanbieterInnen im Gesundheitssystem ist; welche Ebenen der Versorgung es gibt und wie das alles miteinander verschachtelt ist.
Es geht auch darum, evidenzbasierte Medizin, Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung zu erlernen, sowie um Health Technology Assessment, aber auch um Health Impact Assessment, also das Abschätzen der Folgen von Entscheidungen verschiedener Player auf die Gesundheit.
Auch Ethik und rechtliche Grundlagen sind Teil dieses Blocks. Präventivmedizin wird sehr ausführlich behandelt. Thema ist auch die Geriatrie, also die Herausforderung bei der Betreuung von Hochbetagten.
Während meines Medizinstudiums wurden diese Aspekte noch im Rahmen der Sozialmedizin besprochen, die allerdings bei den meisten Kolleginnen und Kollegen keinen guten Ruf hatte, weil vielen nicht bewusst war, wozu Sozialmedizin gebraucht wird. Das hat sich dramatisch geändert. Über den Stellenwert von Public Health gibt es heute keinerlei Diskussionen mehr mit den Studierenden – sie verstehen, dass das Wissen darüber genauso wichtig wie das Wissen über Diabetes mellitus oder Wundversorgung ist.
Ich glaube, dass MedizinerInnen dieses Wissen auch brauchen, um zu verstehen, mit wem sie es im Gesundheitssystem zu tun haben; warum Dinge sind, wie sie sind, bzw. was sie ändern können oder sollten. Ich habe die Hypothese aufgestellt, dass sich viele Reformen im Gesundheitssystem auch deshalb nicht durchsetzen, weil bei der älteren Generation der Ärztinnen und Ärzte das Verständnis für diese Zusammenhänge fehlt.

 

Kommt Public Health in Klinik und Praxis an?

 

Dorner: Public Health und klinische Medizin beeinflussen sich wechselseitig. Die klinischen MedizinerInnen sind die ersten, die epidemiologische Veränderungen sehen, und somit braucht es hier eine Kommunikation zwischen den beiden Bereichen. Umgekehrt gibt es auch Veränderungen in der Bevölkerung, die auf die klinische Tätigkeit Auswirkungen haben. Klassisches Beispiel für die Vernetzung der klinischen Medizin, und Public Health ist die zunehmende Antibiotikaresistenz. Jeder Arzt, jede Ärztin muss wissen, dass durch die Verordnung von Antibiotika nicht nur etwas für den/die einzelne/n PatientIn getan wird. Zu viele Verordnungen und die Verordnung von falschen Antibiotika verursachen Resistenzen, die für die gesamte Bevölkerung eine Bedrohung sind.
Impfen ist ein ähnliches Thema: Impfen ist wichtig, um eine einzelne Person zu schützen, aber auch um eine Herdenimmunität zu erreichen. Dadurch hat Impfen einen wesentlichen Public Health Impact.
Public Health betrifft auch das Wissen über soziale Determinanten von Gesundheit. In einer modernen, integrierten Versorgung ist es möglich, die sozialen Hintergründe aller Patientinnen und Patienten mit in die Versorgung einzubeziehen. Alleine schon das Wissen darüber, dass es soziale Barrieren und Ressourcen der Patientinnen und Patienten gibt, ist schon ein wichtiger Schritt zur personenzentrierten Versorgung. So stehen nicht die Krankheiten, sondern die Menschen im Mittelpunkt.

 

Wo liegen die Herausforderungen für die Zukunft?

 

Dorner: Public Health fußt auf vier Säulen: Lehre, Forschung, Policy und Anwendung. Ich glaube, dass es bei diesen vier Säulen in Österreich doch noch Herausforderungen gibt, die wir angehen müssen.
Bei der Lehre hat sich in den letzten zehn Jahren sehr viel getan. Wir haben postgraduelle Universitätslehrgänge zum Bereich Public Health, zwei Public-Health-Doktoratsprogramme (in Wien und Tirol), und Public Health hat vermehrt Eingang in die Ausbildung verschiedener Gesundheitsberufe, z. B. das Medizinstudium gefunden. Es gibt auch sehr viele Fachhochschul-Lehrgänge, die Teilbereiche von Public Health abdecken. Die Quantität stimmt; qualitativ glaube ich aber, dass wir doch noch einiges verbessern müssen. Besonders im internationalen Vergleich sehe ich hier noch Defizite.
Forschung scheint in Österreich kein großes Thema zu sein. Es gibt zwar Public-Health-Forschung von der Sozialversicherung oder der GÖG, aber die Finanzierung der unabhängigen universitären Public-Health-Forschung gibt es de facto nicht. Wir suchen also bei denselben Töpfen an wie die klinische Forschung und die Grundlagenforschung. Sehr oft wird ein eingereichtes Public-Health-Projekt zwar sehr gut bewertet, aber dennoch nicht gefördert, weil der Schwerpunkt auf anderen Bereichen liegt. In anderen Ländern gibt es eigene Töpfe für die Förderung von Public Health. Ich glaube, dass wir das auch in Österreich brauchen, um die gleiche Chance zu bekommen wie andere Bereiche der Medizin. Ich denke, dass es auch verschiedene Stakeholder gibt, die diese Töpfe bespielen könnten, wie Sozialversicherungsträger, das Gesundheitsministerium und auch das Forschungsministerium.
Zur Policy: Ich glaube, dass sehr viele EntscheidungsträgerInnen auf verschiedenen Ebenen, die nicht im Gesundheitsbereich tätig sind, noch nicht verstanden haben, was für eine Verantwortung auch sie für die Gesundheit von Menschen haben. Wir haben in Österreich zwar die 10 Rahmen-Gesundheitsziele, die sehr stark auf Health in all Policies abzielen, aber man muss dafür sorgen, dass der Prozess, der damit gestartet wurde, nicht vergessen wird, sondern dass noch mehr Stakeholder ihre Verantwortung für die Gesundheit erkennen.
Schlussendlich noch die Anwendung: Ich glaube, dass in Österreich immer noch sehr viele Entscheidungen nicht evidenzbasiert passieren – insbesondere auch im Kerngesundheitsbereich –, sondern dass sie politisch entstehen. Man muss hier mehr Evidenz einfordern, aber auch mehr Evidenz erschaffen können. Im Gegensatz zu anderen Ländern werden in Österreich die Routinedaten aus dem Gesundheitssystem nicht für Forschung zur Verfügung gestellt. Das sollte man ändern, natürlich unter Einhaltung aller Richtlinien des Datenschutzes, die gewährleistet sein müssen. Aber auch andere Länder haben es geschafft, Forschung mit Routinedaten zu betreiben und somit auch das Gesundheitssystem evidenzbasiert verbessern zu können.

Vielen Dank für das Gespräch!