Leitlinien und Algorithmen sind in der Praxis nicht alles

FOTO: ALEXANDER RATHS / ISTOCK

Leitlinien sind ein wichtiger erster Ansatzpunkt in der Betreuung von Schmerpatienten – aber nicht mehr. Denn Faktoren wie Patientenansprechen oder die individuelle Zielsetzung werden bei Leitlinien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. (ärztemagazin 05/17)

SERIE CHRONISCHER SCHMERZ – TEIL 3

„WHY NOT FREEDOM from cancer pain?“, fragte 1986 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und führte damit das berühmte Stufenschema für die Analgetika-Behandlung von Tumorpatienten ein. Bekanntermaßen handelt es sich dabei um Stufe 1: Nicht-Opioidanalgetika, Stufe 2: niederpotente Opioidanalgetika + Nicht- Opioidanalgetika, und Stufe 3: hochpotente Opioidanalgetika + Nicht-Opioidanalgetika. Tumorpatienten machen zwar nur rund vier bis sechs Prozent aller Schmerzpatienten aus, dennoch wurde dieses Schema bereits nach wenigen Jahren auch für den Einsatz von Analgetika bei nicht-tumorbedingten Schmerzen propagiert und eingesetzt. Damit sind jedoch gleich zwei Probleme verbunden: Erstens war das WHO-Schema nie für diese Patienten gedacht, und zweitens fehlt bis heute jegliche Evidenz für einen Einsatz des WHO-Stufenschemas bei nicht-tumorbedingten Schmerzen, kritisiert Dr. Wolfgang Jaksch, Oberarzt an der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin am Wilhelminenspital Wien sowie Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG).

Schema

ÖSG-KONSENSUSPAPIER OPIOIDE Nun sei es zwar grundsätzlich nicht falsch, auch bei nicht-tumorbedingten Schmerzen Opioide einzusetzen, gegebenenfalls auch starke Opioide der Stufe 3. In Österreich, so der Experte, werden Opioide häufig bei Schmerzpatienten verschrieben, doch gibt es ein Ungleichgewicht zu beobachten: „Wir haben immer noch Ärzte, die Opioide nur sehr restriktiv einsetzen, während andere immer noch nach dem Konzept ‚kein Patient muss Schmerzen haben‘ verschreiben – was einfach nicht bei allen Patienten möglich ist.“ Um über den verantwortungsvollen Umgang mit Opioiden bei Schmerzpatienten aufzuklären, hat Jaksch in seiner Funktion als Präsident der ÖSG ein Konsensuspapier zum richtigen Einsatz von Opioiden herausgegeben, das über die ÖSG-Homepage abrufbar ist1.

Diese Leitlinien enthalten auch umfassende Informationen zu den unter Opioid-Analgetika häufigen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (diese führen häufiger zu Therapieabbrüchen als die fehlende Wirkung der Therapie); wie etwa die Fahrtüchtigkeit unter Opioid-Analgetika-Therapie, das Auftreten von Obstipation und Übelkeit, hormonelle Störungen oder Müdigkeit. Auch spezielle Patientengruppen werden in den ÖSG-Leitlinien berücksichtigt: Bei Senioren etwa solle das Prinzip „Start low, go slow“ zur Anwendung kommen (anfangs niedrige Dosis, langsame Steigerungen); bei Kindern undJugendlichen kommt eine Therapie chronischer Schmerzen mit Opioidanalgetika nur in Ausnahmefällen und an spezialisierten Zentren in Betracht; und im Fall einer Schwangerschaft sollten betroffenen Patientinnen die Therapie mit Opioidanalgetika beenden. Für jeden Patienten soll mit einer angemessen und verantwortungsvoll durchgeführten Therapie mit Opioidanalgetika die „vier S“ erreicht werden: Schmerzlinderung, Sicherheit der Therapie, soziale Teilhabe und – ein sehr wichtiger Punkt – das Vermeiden von Substanzproblematik.

KRITIK AN WHO-LEITLINIEN Die WHO-Leitlinien sieht Dr. Jaksch hingegen mit einer Reihe von Problemen behaftet: Erstens sagten sie nichts darüber aus, ob der Patient auf die Therapie auch anspricht. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass selbst diejenigen Medikamente, die evidenzbasiert bei gewissen Schmerzzuständen wirken, nur bei einem Teil der Patienten effektiv sind. Zudem orientiert sich das WHO-Stufenschema ausschließlich an der Schmerzstärke und nicht an der Unterscheidung zwischen nozizeptivem und daher rein physiologischem Entzündungsschmerz einerseits und neuropathischen Schmerzen andrerseits: „Das ist aber für die weitere Behandlung absolut unerlässlich.“ Man kann zur Differenzierung zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen verschiedene Screeningbögen einsetzen; außerdem sind bei allen Patienten immer auch die Schmerzqualitäten zu beurteilen: einschießende, elektrisierende oder brennende Schmerzen, Kribbeln oder Ameisenlaufen, Taubheit oder Hyperalgesie sind alles Hinweise auf das Vorliegen von zumindest „einer neuropathischen Komponente“, so Jaksch.

„In den WHOLeitlinien fehlen realistische Therapieziele“ OA Dr. Wolfgang Jaksch
„In den WHOLeitlinien fehlen realistische Therapieziele“
OA Dr. Wolfgang Jaksch

Bei vielen Patienten liegt außerdem eine Mischform vor („mixed pain“), das betrifft etwa Patienten mit Rückenschmerzen, aber auch Tumorpatienten. Ein weiterer Kritikpunkt von Wolfgang Jaksch am WHO-Stufenschema ist der Einsatz der Nicht-Opioidanalgetika, die auf jeder Stufe zum Einsatz empfohlen werden. „Bei den meisten nicht-tumorbedingten Schmerzen, aber auch bei vielen tumorbedingten Schmerzen ist ja glücklicherweise nicht mehr mit einer stark eingeschränkten Lebenserwartung zu rechnen. Damit kann aber die längerfristige Gabe der Nicht-Opioidanalgetika problematisch werden, etwa gastrointestinale, kardiovaskuläre oder renale Nebenwirkungen“, gibt der Schmerzexperte zu bedenken; für viele ältere oder multimorbide Patienten gilt sogar eine Kontraindikation.

REALISTISCHE ZIELE SETZEN Ein weiteres wesentliches Thema in der Behandlung aller chronischen Schmerzpatienten sind die „realistischen Therapieziele“, die in den WHO-Leitlinien ebenfalls fehlen. Es ist eine heikle Angelegenheit, da viele Patienten bei ihrem behandelnden Arzt zunächst von der kompletten Schmerzfreiheit als Therapieziel ausgehen. „Für die Patienten ist es daher häufig ein Schock, wenn sie von mir fast als Erstes die Aussage hören: Wir können leider keine absolute Schmerzfreiheit erreichen“, berichtet Dr. Jaksch aus der Praxis. In solchen Fällen sei es wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine Linderung der Schmerzen – anzustreben ist immer eine 30- bis 50prozentige Schmerzreduktion –, eine bessere Funktionalität und daher eine insgesamt bessere Lebensqualität sehr wohl erreichbare Ziele darstellten. „Das bedeutet, man definiert beispielsweise auf der ‚Change Pain‘-Skala ein genaues Therapieziel, das erreicht werden muss, um diese Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. Danach erfolgt das Verschreiben von Analgetika, und man schaut, ob man das Ziel mit akzeptablen Nebenwirkungen erreichen kann.“ Wenn ja, ist der Patient ein Responder, wenn nein, ist eine Alternative anzubieten. Änderungen sind allerdings in Sicht: Laut Information von Dr. Jaksch werden die neuen WHOLeitlinien höchstwahrscheinlich diese „realistischen Ziele“ beinhalten und zudem Mechanismus-orientiert sein. „Damit sollten sie auch für alle Schmerzzustände gelten.“

QUELLE: ÖSG/AUSAM-POSITIONSPAPIER ZUM EINSATZ VON OPIOIDEN BEI TUMOR- UND NICHTTUMORBEDINGTEN SCHMERZEN, SCHMERZ NACHRICHTEN NR.2A | 2015|REV.1

VERLUST DER ÄRZTLICHEN KUNST Doch unabhängig davon, ob es sich um WHO-Leitlinien oder „Richtlinien und Algorithmen der verschiedenen Gesellschaften handelt“, bleibt Wolfgang Jaksch Leitlinien gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt. „Es braucht schon eine Menge Erfahrung, um eine gute Schmerztherapie durchzuführen; lediglich Algorithmen zu folgen ist zu wenig.“ Dasselbe gelte übrigens für die gesamte evidenzbasierte Medizin (EBM): „Ich halte es für eine ganz schlechte Entwicklung, sich ausschließlich an die EBM zu halten. Erstens beruht die EBM auf Studien, die eine große Menge an Patienten ausschließen, die man aber in der klinischen Praxis sehr wohl behandelt. Außerdem besteht die Gefahr, dass viel ärztliche Kunst verloren geht, etwa wie man den Patienten beobachtet und sein Ansprechen einordnet.“ Für Jaksch ist daher klar: Leitlinien sind wichtig und nützlich, sie können jedoch in der Betreuung chronischer Schmerzpatienten immer nur ein erster Ansatzpunkt sein.

Regeln für die Langzeit-Opioidtherapie bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen

  • Medizinische Notwendigkeit dieser Therapie festlegen
  • Realistische Ziele definieren
  • Nutzen und Risiko laufend abwägen, nicht nur zu Beginn
  • Risikopersonen für Abhängigkeit identifizieren
  • Therapieeinleitung durch ein multiprofessionelles Team, zumindest mit Konsiliarpsychiater
  • Management von Nebenwirkungen
  • Bei stabiler bis moderater Opioiddosis und Behandlungserfolg: Therapie beibehalten
  • Bei fehlenden Fortschritten oder Überwiegen der Nebenwirkungen: Therapiestopp.

Referenz:
1 www.oesg.at/publikationen/publikationen/consensus-statements/