“Komplexe Diagnosen dauern oft Stunden“

Strukturelle Mängel in Österreich verstärken die Herausforderungen auf dem Gebiet der Schmerzbehandlung, meint Ass. Prof. Dr. Gudrun Rumpold-Seitlinger. (ärztemagazin 13/17)

SERIE CHRONISCHER SCHMERZ – TEIL 10

ärztemagazin: Eine Frage, um den Überblick zu gewinnen: Sind die meisten Schmerzpatienten in Österreich mit ihrer Behandlung zufrieden oder eher nicht?

Ass. Prof. Dr. Gudrun Rumpold-Seitlinger Interdisziplinäre Schmerzambulanz Klinische Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin Medizinische Universität Graz
Ass. Prof. Dr. Gudrun Rumpold-Seitlinger
Interdisziplinäre Schmerzambulanz Klinische Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin Medizinische Universität Graz

Dr. Rumpold-Seitlinger: Abhängig vom zugrunde liegenden Krankheitsbild, das die Schmerzen verursacht, gibt es Unterschiede in der Zufriedenheit. Ein wichtiges Beispiel sind Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, das ist unsere Hauptklientel. Diese Patienten sollten eigentlich in ein multimodales Therapiekonzept eingebunden werden, doch im Gegensatz zu Deutschland haben wir in Österreich leider nur eine solche Einrichtung mit entsprechenden Möglichkeiten im Landeskrankenhaus Klagenfurt (Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin) zur Verfügung. Schmerzambulanzen wurden in den letzten Jahren speziell in der Peripherie deutlich reduziert, sodass für viele Patientinnen und Patienten zu lange Anfahrtswege bestehen. Das heißt auch, dass bestimmte Therapieoptionen, die nur nach Verordnung durch Fachärzte von den Krankenkassen bewilligt werden, diesen Patienten nicht zur Verfügung stehen – und das ist natürlich nicht zufriedenstellend.

Gibt es bestimmte Patientengruppen, bei denen Sie häufig Fehler beobachten?

Dies betrifft eventuell die Verordnung von Opioiden bei geriatrischen Patienten. Wir können beobachten, dass diese mit zu hohen Dosen eingeleitet wird oder dass eine zu rasche Steigerung vorgenommen wird. Das richtige Vorgehen ist: Bei geriatrischen Patienten sollte man kurzwirksame Opioide in einer 30- bis 50prozentig reduzierten Anfangsdosis gegenüber jüngeren Patienten einleiten und eine Steigerung in Schritten von jeweils 25 Prozent alle 24 Stunden vornehmen, bis eine entsprechende Schmerzlinderung bei guter Verträglichkeit erreicht ist. Dann erfolgt die Umstellung auf ein retardiertes Präparat. Außerdem ist Substanzen der Vorzug zu geben, welche unabhängig von der Nierenfunktion eliminiert werden, da die Nierenfunktion bei diesen Patienten meist eingeschränkt ist.

Apropos Opioide, bestehen hier von Ärzteseite immer noch grundsätzliche Bedenken, eine solche Therapie einzuleiten?

Ja, vor allem die Angst vor zentralnervösen Nebenwirkungen oder der Sturzgefahr, vor allem bei Älteren, ist sicher noch vorhanden. Doch Studien zufolge ist die Sturzgefahr zwar am Anfang während der Titration höher, danach aber niedriger als ohne Therapie. Nach der Titration wird die Einstellung auf eine retardierte Darreichungsform empfohlen. Auch die Angst vor einer Sucht beziehungsweise Abhängigkeit ist sicher in manchen Fällen noch ein Thema. Die Suchtgefahr besteht vor allem dann, wenn man kurzwirksame Opioide bei nichttumorbedingten Schmerzen verordnet, keine retardierte Darreichungsform eingesetzt wird und keine regelmäßigen Therapie-Kontrollen durchgeführt werden. Weiters gibt es patientenbezogene prädisponierende Faktoren bezüglich der Gefahr einer Abhängigkeit. Ein höheres Risiko haben Patienten mit einem aktuellen oder zurückliegenden Substanzmissbrauch oder einer psychiatrischen Komorbidität. Zur Evaluierung des Abhängigkeitsrisikos existiert ein Fragebogen, der von der ÖSG vor Einleitung einer Opioidtherapie empfohlen wird.

Und wie ist es bei Langzeitanwendung von Opioiden?

Die Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen ist ein weiterer wichtiger Punkt. Hier sind individuelle und realistische Therapieziele für jeden einzelnen Patienten zu erarbeiten, dabei sollte man sich an die LONTS halten (Anm.: Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumor-bedingten Schmerzen), die 2015 aktualisiert wurde. Als Therapieresponse aus medizinischer Sicht wird eine 30prozentige Schmerzreduktion und/oder Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag angesehen. Auch hier ein Cave!: Eine Höchstdosis von >120mg/Tag oralem Morphinäquivalent ist in der Langzeitanwendung nur in absoluten Ausnahmefällen zu überschreiten. Das ist in der Praxis aber leider häufig zu beobachten, was auch gewissermaßen verständlich ist: Denn 120mg/Tag orales Morphinäquivalent erscheint nicht viel, dem entspricht ein Fentanyl-50μg-Pflaster oder Hydal 16mg. Nicht vergessen: Eine Therapiekontrolle sollte mindestens einmal im Quartal erfolgen.

Welche Fehler beobachten Sie bei anderen Medikamenten?

NSAR werden immer noch Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren verordnet – bei koronarer Herzkrankheit denken viele Ärzte noch an die Kontraindikation, aber gelegentlich wird vergessen, dass auch Interaktionen mit einer antihypertensiven Therapie zu beachten sind. Eine weitere wichtige Interaktion ist unter ASS  zu beobachten: Diese ist bei gleichzeitiger Gabe von Ibuprufen oder Naproxen nicht wirksam. Wir sind bei kardiovaskulären Risikopatienten daher sehr häufig auf eine andere Gruppe der Nicht-Opioid- Analgetika ausgewichen. Doch leider zeigen nun Studien auch bei Metamizol diese Interaktion mit ASS, und hier bietet auch der zeitliche Abstand zwischen der Einnahme von ASS und Metamizol – ein Abstand, der bei den NSAR empfohlen wurde – keine Sicherheit. Das ist eine neue und sehr wichtige Information, denn Metamizol ist eines der am häufigsten verordneten Medikamente, und wir haben es selbst bis vor kurzem zusammen mit ASS verordnet.

Gibt es typische Fehler bei bestimmten Krankheiten?

Bei dieser Frage möchte ich auf neuropathische Schmerzen Bezug nehmen. Wir sehen sehr viele Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, bei denen sowohl nozizeptive als auch neuropathische Schmerzen vorliegen. Hier besteht die Gefahr dass die neuropathischen Schmerzen übersehen werden – denn im kurzen Gespräch mit dem Patienten ist nicht immer sofort klar, ob diese vorliegen oder nicht. Empfehlen kann ich den painDETECT-Fragebogen, mit dem die Evaluierung einer neuropathischen Komponente einfach und rasch möglich ist (Anm.: www.pain-detect.de/schmerzscreening.htm). Anhand des Scores kann man erkennen, ob eine neuropathische Komponente unwahrscheinlich, wahrscheinlich oder nicht eindeutig vorhanden ist. Bei Vorliegen einer neuropathischen Komponente bei Patienten mit Rückenschmerzen sind NSAR oder andere Nicht-Opioid-Analgetika natürlich nicht ausreichend; hier müssen trizyklische Antidepressiva, Noradrenalin-Serotonin- Reuptake-Inhibitoren oder Antikonvulsiva als First-Line-Therapeutika eingesetzt werden.

Das heißt, hier werden Fehler in der Diagnostik gemacht?

Das würde ich so nicht formulieren. Die Problematik ist, dass wir uns in unserer Schmerzambulanz wirklich ausreichend Zeit für unsere Patienten nehmen können – ganz im Gegensatz zu Allgemeinmedizinern, die häufig einfach nicht die Möglichkeit haben, die manchmal doch recht komplexen Diagnosen zu stellen. Diese erfordern häufig sehr viel Zeit, in manchen Fällen sind Stunden nötig, und das ist unter Routinebedingungen kaum möglich. Ich würde daher viel eher von Herausforderungen in der Diagnostik sprechen.

Können Sie mir ein praktisches Beispiel dafür nennen?

Ein Beispiel für eine Herausforderung in der Diagnostik ist sicher das CRPS (Complex Regional Pain Syndrome; s. Kasten). Hier ist neben einer klinischen Untersuchung anhand der „Budapest-Kriterien“ auch eine längerdauernde Temperaturmessung im Vergleich der Extremitäten erforderlich. Erst in Zusammenschau der Befunde, einschließlich einer eventuell erforderlichen Szintigrafie, kommt man hier zur Diagnose und in weiterer Folge zu einer Therapieempfehlung. Solche Patienten sollten daher immer an spezialisierte Zentren überwiesen werden.