28. Okt. 2017

Ein Ausblick auf die neue europäische MS-Guideline

Die Fachgesellschaften in Europa und den USA arbeiten an neuen Leitlinien für die Behandlung der schubförmig verlaufenden multiplen Sklerose. Während die Details der US-Guideline streng unter Verschluss gehalten werden, konnte Prof. Dr. Xavier Montalban vom Hospital Universitari Vall d’Hebron in Barcelona im Rahmen des ECTRIMS 2017 bereits die derzeitige Version der 20 Empfehlungen der kommenden ECTRIMS/EAN Guideline präsentieren. Der Peer Review Prozess steht allerdings noch aus, so dass Änderungen aller Art noch möglich sind. Die Empfehlungen werden in etwa (nicht im genauen Wortlaut) folgendermaßen lauten:

1) Das gesamte Spektrum krankheitsmodifizierender Medikamente (DMDs) sollte nur in Zentren verschrieben werden, deren Infrastruktur geeignet ist, ein ausreichendes Monitoring der Patienten und vollständige Diagnostik zu gewährleisten sowie Nebenwirkungen zu erkennen und zu managen.

2) Patienten mit einem klinischen isolierten Syndrom (CIS) und Auffälligkeiten in der MRT, mit Läsionen, die in Richtung einer MS deuten, sollten Interferon oder Glatiramerazetat angeboten werden, auch wenn sie die Diagnosekriterien einer MS nicht erfüllen.

3) Patienten, die die Diagnosekriterien einer MS erfüllen, sollte früh eine Therapie mit DMDs angeboten werden. Das betrifft auch CIS-Patienten, die die MS-Kriterien erfüllen.

4) Welche DMD aus dem weiten Spektrum der unterschiedlich wirksamen DMDs im individuellen Fall zum Einsatz kommen soll, wird gemeinsam mit dem Patienten entschieden anhand von Patienten-Charakteristika und Komorbiditäten, Schweregrad und Aktivität der Krankheit, Sicherheitsprofil des Medikaments und schließlich Verfügbarkeit.

5) Eine Behandlung mit Interferon-1a (s.c.) oder -1b soll bei Patienten mit schubförmig verlaufender MS gemeinsam mit dem Patienten erwogen werden, wobei die zweifelhafte Wirksamkeit und das Nebenwirkungsprofil zu berücksichtigen sind.

6) Eine Behandlung mit Mitoxantron soll bei Patienten mit sekundär progredienter MS gemeinsam mit dem Patienten erwogen werden, wobei die Wirksamkeit und insbesondere das Sicherheitsprofil und die Verträglichkeit dieser Substanz zu berücksichtigen sind.

7) Bei primär progredienter MS soll die Behandlung mit Ocrelizumab erwogen werden (diese Empfehlung findet sich vorbehaltlich der noch nicht erfolgten Zulassung von Ocrelizumab durch die EMA im Entwurf der Leitlinie)

8) Hinsichtlich Dosierung, Warnungen, Nebenwirkungen, Monitoring etc. soll immer die Fachinformation (Summary of Product Characteristics) herangezogen werden.

9) Bei der Evaluation der Krankheitsentwicklung eines Patienten unter Therapie sollen MRT und klinische Bewertung berücksichtigt werden.

10) Für das Monitoring von Patienten unter DMD-Therapie soll innerhalb von sechs Monaten eine MRT durchgeführt und mit einer weiteren, zwölf Monate nach Behandlungsbeginn aufgenommenen MRT verglichen werden. Der genaue Zeitpunkt der Untersuchungen soll bestimmt werden unter Berücksichtigung des Wirkmechanismus des Medikaments und der Krankheitsaktivität.

11) Für das Monitoring von Patienten unter DMD-Therapie ist die Messung neuer oder größer werdender T2 Läsionen die MRT-Methode der Wahl. Gadolinium-aufnehmende T1 Läsionen liefern zusätzliche Informationen. Voraussetzung für die Untersuchungen sind qualitativ hochwertige MRT-Scans sowie entsprechend erfahrene Befunder.

12) Für das Sicherheits-Monitoring von Patienten unter DMD-Therapie soll bei Patienten mit niedrigem PML-Risiko einmal im Jahr eine MRT durchgeführt werden. Bei höherem PML-Risiko ist die MRT-Frequenz auf einmal alle sechs oder alle drei Monate zu erhöhen. Hohes Risiko besteht bei JCV-positiven Patienten und Natalizumab-Therapie über mehr als 18 Monate. Wird bei Patienten mit hohem PML-Risiko die Therapie umgestellt, so soll zum Ende der alten und zu Beginn der neuen Therapie eine MRT durchgeführt werden.

13) Patienten, die unter Therapie mit Interferon oder Glatiramerazetat Zeichen von Krankheitsaktivität zeigen, sollte eine wirksamere Therapie angeboten werden.

14) Fällt die Entscheidung zu einem Switch, sollten bei der Wahl des neuen Medikaments, in Absprache mit dem Patienten, Patienten-Charakteristika und Komorbiditäten, Schweregrad und Aktivität der Krankheit und das Sicherheitsprofil des Medikaments bedacht werden.

15) Wenn die Therapie mit einem hochwirksamen Medikament wegen mangelnder Wirksamkeit oder wegen Nebenwirkungen abgebrochen wird, sollte die Wahl eines anderen hochwirksamen Medikaments erwogen werden. Dabei sollten bedacht werden: die Krankheitsaktivität (je höher, desto dringender ist die neue Therapie), Halbwertszeit und biologische Aktivität des früheren Medikaments, die Möglichkeit wiederkehrender Krankheitsaktivität oder sogar eines Rebound (besonders bei Natalizumab).

16) Soll die Therapie abgesetzt werden, sind die Möglichkeit wiederkehrender Krankheitsaktivität oder sogar eines Rebound (besonders bei Natalizumab) zu bedenken.

17) Bei einem stabilen Patienten und guter Verträglichkeit soll eine Therapie fortgesetzt werden.

18) Alle Patientinnen im gebärfähigen Alter sollten darauf hingewiesen, dass sämtliche DMDs, mit Ausnahme von Glatiramerazetat 20mg/ml in der Schwangerschaft nicht zugelassen sind.

19) Bei Frauen, die eine Schwangerschaft planen, sollte bei Risiko einer Reaktivierung der MS erwogen werden, die Therapie mit Interferon oder Glatiramerazetat bis zur Bestätigung der Schwangerschaft fortzuführen. In sehr spezifischen Fällen kann eine Weiterführung der Therapie in der Schwangerschaft erwogen werden.

20) Bei Frauen mit anhaltender, hoher Krankheitsaktivität wird empfohlen, den Kinderwunsch zu verschieben. Bestehen Frauen darauf, trotz dieser Empfehlung schwanger zu werden, oder kommt es zu einer ungeplanten Schwangerschaft, bestehen zwei Optionen: Eine Fortführung der Therapie mit Natalizumab, nachdem alle möglichen Implikationen und Konsequenzen mit der Patientin besprochen wurden. Oder im Fall einer geplanten Schwangerschaft bei hoher Krankheitsaktivität eine Behandlung mit Alemtuzumab. In diesem Fall ist ein Intervall von vier Monaten von der letzten Infusion bis zum Beginn der Schwangerschaft strikt einzuhalten.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy