18. Apr. 2017

Dr. Stelzl: Wohin dreht sich unsere Welt?

Vor mir auf der Untersuchungsliege liegt eine junge Brasilianerin mit Nadelangst. In meiner Hand halte ich eine FSME-Impfung. Ich rede beruhigend auf die Frau ein, ihr Mann drückt ihr die Hand und zack, schon ist die Impfung drin. Ganz ohne Probleme mit nur ein bisschen Zittern und ganz wenig Hyperventilation. Alle drei atmen wir erleichtert aus. Ich stelle fest, dass ich vor Anspannung die Luft angehalten hatte. Es hätte ja auch sein können, dass sie nicht so ruhig und gelassen bleibt. Ich habe einige Nadelangstpatienten. Zwei haben mich in ihrer Panik schon getreten, einer hat mich gebissen, eine hat so hyperventiliert, dass ich aus Solidarität fast kollabiert wäre, und eine verfällt jedes Mal in hystrionische Krämpfe.

Die gegenwärtig daliegende Patientin ist vergleichsweise harmlos. Seit über einem Jahr kennen wir uns jetzt. Seit Anfang letzten Jahres sind sie und ihr Mann meine Patienten. In dieser Zeit haben wir immerhin schon drei Blutabnahmen und eine größere Zahl notwendiger Impfungen gemeinsam überstanden. Zur Belohnung für so viel Tapferkeit kriegt sie ein Zuckerl. Die große Dose Sweeties ist immer voll. Brave Kinder müssen nach Impfungen etc. schließlich belohnt werden. Und von einem gelegentlichen Zuckerl kriegt man weder Karies noch Adipositas. Auch tapfere Erwachsene kriegen manchmal eines. „Hey, ich war auch ganz brav“, meint der Mann lachend und ich schmeiß noch eine Runde Zuckerln für uns drei.

R wie Rationalisierung

Gelegentlich wird die Sweetie-Dose auch von mir und meinen Mitarbeitern geplündert. Wenn nämlich einer dieser Tage ist, an denen so wahnsinnig viel los ist, dass wir nicht mal zum Pinkeln kommen, geschweige denn zur Zubereitung eines Kaffees, und unsere Hirne immer leerer werden, der Blick nicht mehr ganz zielgerichtet ist und wir beim Sprechen über die eigenen Wörter stolpern. Dann treibt uns der Hypo dazu, uns an der Sweetie-Dose zu vergreifen. Und ja, wir wissen, dass es gesündere Arten der Nahrungsaufnahme gibt. Und nein, wir möchten jetzt keine Ernährungstipps bekommen! Während die junge Frau sich die Jacke wieder anzieht, erzählt sie mir von daheim. In Brasilien geht man offensichtlich zur Blutanalyse nur in ein Labor. Dort arbeiten viele verschiedene Menschen. Man kennt niemanden, ist nur eine Nummer und kommt auch jedes Mal an jemand anderen. Man hat niemanden, der für einen zuständig ist.

Im Krankheitsfall geht man auch in eine anonyme Gesundheitseinrichtung. Auch dort arbeiten viele verschiedene Leute. Man kennt niemanden persönlich, und keiner kennt einen oder die eigenen Ängste, Nöte und Vorlieben. Die Behandlung ist nicht schlecht, die Ärzte und das medizinische Personal sind nicht unfreundlich, und der Standard scheint auch ziemlich gut zu sein. Das kann ich nach Durchsicht der Krankenakten übrigens durchaus bestätigen. „Aber wissen Sie, Frau Doktor: Das System, das Sie hier haben, ist viel besser. Wir sind so froh, dass wir Sie gefunden haben. Schon wenn man reinkommt bei der Tür. Ihre Assistentin ist so freundlich, man fühlt sich gleich willkommen. Und bei Ihnen auch. Und ich habe Vertrauen zu Ihnen und ich kann mit Ihnen über alles reden. Es ist so viel besser als das anonyme System bei uns daheim. Es sollte überall so laufen!“

cartoon_flucht

Ich bin wirklich gerührt. Ich habe mir natürlich viel Mühe gegeben mit den beiden. Andererseits sind das auch Menschen, bei denen es nicht schwierig ist, freundlich zu sein. Sie sind selber sehr freundlich, höflich und einfach lieb. Sie haben ihre kleinen Besonderheiten, aber die kenne ich schon, kann darauf eingehen und damit umgehen. Und ich mag die beiden wirklich. Ich antworte, dass ich das sehr lieb von ihr finde und dass mich das Feed­back sehr aufbaut. Und ja, ich finde auch, dass wir ein wunderbares System haben. Ich finde auch, dass es total wichtig ist, dass Ärzte und Patienten einander kennen und vertrauen. Macken und Spinnereien auf beiden Seiten inklusive. Außerdem ist es ja auch viel leichter, wenn man als Arzt oder Ärztin seine Patienten kennt und nicht jeden Tag nur in fremde Gesichter blickt und bei der Anamnese immer wieder bei Adam und Eva anfangen muss.

„Ja, wir haben ein wunderbares System hier. Aber stellen Sie sich vor, es wird nicht so bleiben. Auch bei uns ist geplant, ein neues, fraglich effizienteres, kostengünstiges und auf jeden Fall anonymeres System einzuführen. Weil in der Theorie und am Reißbrett egal ist, wie die Arbeit gemacht wird, und weil man den Umgang mit Menschen besser organisieren, strukturieren, evidenzbasieren, gleichschalten und kosteneffizienter machen will. Weil man die persönliche Bindung und den großen variablen Faktor Individuum einfach ignorieren und wegrationalisieren möchte.“ „Man sollte die Menschlichkeit aber nicht wegrationalisieren. Im Umgang mit Menschen darf man ja nicht zuerst an die Kosten denken“, meint sie. „Nein, darf man nicht. Weder in der Medizin noch an anderen Schauplätzen darf man zuerst ans Geld und dann an die Menschen denken. Übrigens nicht nur an die Menschen, sondern an alle Lebewesen.“ Aber leider dreht sich unsere Welt ganz anders.

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune