19. Apr. 2017

Dr. Stelzl: Tarnen und Täuschen

Ich stelle ein paar Ansprüche an meinen Arbeitsalltag. Dazu zählt: 1. Das ist mein Laden, deshalb will ich auch entscheiden, wie hier gearbeitet wird, und nicht einfach überrannt werden und im Chaos untergehen. 2. Ich bin nun mal zwangsneurotisch organisiert und gründlich. Aber dafür will ich mich nicht entschuldigen müssen, und schließlich kommt diese Gründlichkeit durchaus meinen Patienten zugute. 3. Ich will Zeit für meine Patienten haben und sie persönlich betreuen können. Deshalb entscheide ich, wie viele Neue wir im Moment nehmen, und vor allem, wann.

Und deshalb geht es bei uns an den allermeisten Tagen relativ geordnet zu, es kommt selten zu Massenaufläufen im Vorzimmer oder zum Aufstand im Warteraum. Ich muss manchmal ein bisschen Gas geben und einfache, unkomplizierte Infekte ein wenig abfertigen, damit keiner allzu lange wartet und damit mir auch genügend Zeit bleibt für komplizierte Krankheitsbilder oder das eine oder andere psychische Problem.

Meine Mitarbeiter sind auch sehr bemüht, dass unser System gut funktioniert. Beispielsweise wird sofort gefragt, wo denn der potenziell neue Patient wohnen würde. Denn natürlich nehme ich die Leute aus dem Bezirk. Aus meinem Bezirk. Aber da kam es schon vor, dass auf die Frage: „Wohnen Sie in der Nähe, wir können nämlich aus organisatorischen Gründen keine neuen Patienten nehmen, die zu weit weg wohnen“, die Antwort lautete: „Ja, ich wohne praktisch gleich um die Ecke.“ Welche Ecke, wurde nicht definiert. Und als er dann da war, stellten wir fest, dass es irgendeine Ecke im Norden von Graz war. Jetzt wird präziser gefragt, und wenn einer unbedingt durch die ganze Stadt zu mir pilgern will und im Krankheitsfall auf Hausbesuche verzichtet, so soll er mir trotzdem willkommen sein. Aber ich weiß gerne, woran ich bin, und ich finde auch, dass der Patient ganz klar informiert sein muss, wie mein Serviceangebot in seinem Fall aussieht. Wer also unbedingt mit akuter Gastroenteritis stundenlang durch die Stadt stauen möchte, darf das meinetwegen tun.

E wie Ehrlichkeit

Etwas komplizierter wird die Situation, wenn einem die Leute nicht sagen wollen, woran sie so leiden. Letztens rief einer an, Schwiegervater eines unserer Patienten, wohnhaft wirklich um die Ecke, und die Familienangehörigen unserer Patienten nehmen wir ja sowieso. Er würde nur eine Impfung brauchen. Ich war zufällig selber am Telefon, erklärte ihm, dass er den Impfstoff in der Apotheke holen müsste, und gab ihm einen Termin. Dann fragte ich, ob er sonst noch an irgendwelchen Erkrankungen und Allergien leiden würde oder irgendetwas zu besprechen wäre. Nein, er ist pumperlgsund. Nur die Impfung und gelegentlich ein paar Medikamente. Er würde mir das am Donnerstag einfach erzählen.

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Am Donnerstag steht er zu seinem kurzen Impftermin in meinem Sprechzimmer. Unter dem Arm trägt er einen dick gefüllten Bene-Ordner. „Die Befunde des letzten Jahres, die könnten Sie interessieren.“ Ich werde grün im Gesicht. Die Mappe würde ausreichend Lektüre für einen vierzehntägigen Strandurlaub bieten, aber während eines Kurztermins nicht mal durchzublättern sein. Also gebe ich erst mal die Impfung und frage dann nach den wichtigsten Erkrankungen. Also, der Herr ist lungentransplantiert, leidet an einem Hypertonus, einer Nierenfunktionseinschränkung, einer KHK, Kolonpolypen, einem Anal­ekzem, an Schlafstörungen und einem nicht insulinpflichtigen Diabetes. Medikamente braucht er ungefähr siebzehn, drei davon chefärztlich bewilligungspflichtig. Ja spinnt die Welt? Da sagt mir der Typ, er ist pumperl­gsund, und dann das da.

Das kommt mir vor, wie diese Menschen, die sich selbst in den diversen Kontaktanzeigen schönlügen. „Sportlicher Mitvierziger, kontaktfreudig, viele Hobbys sucht liebevolle Frau für gemeinsames Haus und Heim.“ Oder so. Und raus kommt bei näherem Hinsehen, dass der Kerl Mitte fünfzig ist, einen Wabbelbauch hat, viel zu viele Kontakte am Stammtisch pflegt und viel zu viele Biersorten viel zu gut kennt und daheim eine Tussi zum Saubermachen braucht. Ich bin jedenfalls stinksauer. Denn ich mag einfach nicht belogen werden. Ich finde, das ist kein guter Start für eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung. Für heute muss er sich mit seiner Impfung begnügen und er bekommt einen Gesprächstermin kommende Woche am Montag nach der Ordizeit. Den Wälzer behalte ich hier, um ihn bis dahin durchzuackern.

Hätte er mir von Anfang an reinen Wein eingeschenkt, würde es mich jetzt nicht jedes Mal nerven, wenn ich ihn sehe. Ich gebe zu, dass ich ihn nicht mag. Und das liegt nicht an den Kosten und Mühen, die er verursacht. Ich habe da zum Beispiel das Ehepaar L. Sie wohnen auch ums Eck und sie sind unendlich mühsam. Aber ich mag sie. Und begonnen hat unsere Arzt-Patienten-Beziehung auf einer ehrlichen Basis. Eines Tages waren sie da und er meinte: „Frau Doktor, ich bin 86, meine Frau ist 90. Wir haben allerhand Krankheiten und brauchen viele Medikamente. Wollen Sie unsere Hausärztin sein?“ Und ich habe Ja gesagt, auch wenn ich mir ihretwegen manchmal die Haare raufe. Ich hatte vorher noch niemanden, dessen Dia­gnoseliste auf Entlassungsbriefen eine ganze A4-Seite gefüllt hat. Von der Medikamentenliste wollen wir erst gar nicht reden. Aber das ist schon ok so.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune