21. Juli 2017

Dr. Stelzl: Missverständnisse

In der Rezeption tobt Frau M. Im Rahmen ihrer Gesundenuntersuchung hatte ich in der Vorwoche ihren Impfpass gecheckt (freiwillige Zusatzleistung meinerseits), sie über die diversen Impfungen und ihre Notwendigkeiten aufgeklärt (Gratiszusatzleistung meinerseits) und war schließlich mit ihr übereingekommen, dass eine FSME- und Diphtherie-Tetanus-Polio-Auffrischung wirklich allerdringlichst nötig wären. Wie alle zur Impfung kommenden Patienten hatten wir sie eine schriftliche Einwilligungserklärung (hurra, Bürokratie und Zettelwirtschaft!) unterschreiben lassen. Und die Beste aller Assistentinnen hatte zum Abschluss auch in ihrem Fall das Sprüchlein mit der Privatleistung von sich gegeben. Na ja, jedenfalls steht sie gerade mit hochrotem Kopf in der Rezeption und probt die hypertensive Krise. Kein Mensch habe ihr erklärt, dass man für Impfungen in der Apotheke zahlen muss.

R wie Rahmenbedingungen

Offenbar zähle ich nicht zur Gattung Mensch, denn ich hatte ihr beim Überreichen des Privatrezeptes sehr wohl deutlich gemacht, dass die darauf stehenden Impfungen gegen Geld käuflich zu erwerben wären. Und jetzt will die Beste aller Assistentinnen auch noch eine Impfgebühr kassieren. „Das ist eine bodenlose Frechheit, jetzt habe ich in der Apotheke schon so viel gezahlt, ich sehe nicht ein, dass ich Ihnen da auch noch Geld geben muss!“ Normalerweise lasse ich ja auch mit mir handeln, verlange keine Impfgebühr, wenn ich weiß, dass es sich die Leute nicht leisten können, oder mache auf irgendwelche Aktionen der Kasse oder Impfstelle aufmerksam. Nur hier nervt mich das, da ich genau weiß, dass es sich bei der Dame um eine Geschäftsfrau mit nicht schlecht laufendem Laden handelt. „Ich muss leider auf die Impfgebühr bestehen, denn dass Sie dem Apotheker schon so viel gezahlt haben, freut mich zwar für den Apotheker, bringt mir persönlich aber genau gar nix.“ Und dann murmle ich noch für sie hoffentlich nicht hörbar, dass eine Sechzigjährige, die noch nicht herausgefunden hat, dass Impfungen jenseits des Mutter-Kind-Passes Geld kosten, eh in den vergangenen Jahrzehnten ordentlich Kohle gespart hat.

Frieden und gegenseitiges Verständnis sind mir heute anscheinend nicht gegönnt. Ich habe keine Ahnung, warum sich manche Kollegen darüber aufregen, dass sie so viele völlig ungebildete Patienten hätten, die obendrein nur Türkisch und Urdu sprechen. Meine haben einen Mag. oder Bakk. in Pädagogik oder einen Dipl.-Ing. von der hiesigen Technischen Universität und sprechen Deutsch. Aber vielleicht liegt es an mir? Rede ich zu schnell?

Nusch­le ich nur undeutlich? Oder sind Ärzte vom Saturn und Patienten vom Pluto? Die einzelnen Geschichten erspare ich Ihnen, aber heute erscheint es, als würde keiner seine Medikation nehmen wollen. Die Hälfte hat sich die Tabletten nicht einmal in der Apotheke geholt. Zur Physiotherapie hat auch nur jeder Zweite gefunden, dafür will der Rest ein MR und das sofort und auf der Stelle, da es nicht sein kann, dass ohne Medikamente und ohne Therapie so gar nichts besser wird. Wie oft werde ich es noch erwähnen müssen, dass weder Bretteljause noch große gemischte Salatschüssel als Schonkost im Gas­troenteritisfall durchgehen? Sollte ich vielleicht gar nichts mehr sagen? Oder nur mehr schriftliche Merkblätter verteilen? Oder vielleicht bei jeder Konsultation einen Anwalt, einen Übersetzer und bei manchen auch noch einen Kindergärtner hinzuziehen?

Aber es kommt noch schlimmer. So wie ich den Patienten Therapien, Risiken, Krankheiten und andere medizinische Belange immer möglichst ausführlich erkläre, so versuche ich ihnen auch organisatorische Dinge bezüglich des Ordinationsablaufs näherzubringen. Es ist mir nicht möglich, per E-Mail zu ordinieren, da es erstens die Kasse nicht gestattet und ich zweitens sonst noch eine zusätzliche Kraft zur Bearbeitung anstellen müsste. Es ist nicht möglich, noch viel mehr neue Patienten anzunehmen, da in meiner Rezeption nur einer von meinen Mitarbeitern Platz hat und wir deshalb aus Platzgründen keine Stereoannahme praktizieren können. Es ist nicht möglich, mit mir am Sonntag auf Facebook über subakute und chronische Problemchen zu kommunizieren, da ich irgendwann auch einmal meine Ruhe haben will. Und die Ordinationszeiten sind im Regelfall zu respektieren, da ich will, dass meine Angestellten ihren Tag planen können und nicht unendlich Überstunden machen müssen.

Notfälle, Ausnahmen, Krisensituationen, Grippewellen, Urlaubsvertretungen etc. ausgenommen. Wir können auch nicht für jeden Patienten an jeden Kontrolltermin denken und ihn dazu einberufen, nicht jeden Facharztbesuch vereinbaren und wegen jedem Befund von uns aus anrufen. Irgendwann ist Schluss und auch wir sind nur Menschen und unsere Kapazitäten sind beschränkt. Das muss ich in letzter Zeit immer öfter und vehementer gegenüber manchen Menschen vertreten. Wahrscheinlich ist das der Grund für Folgendes: Als der letzte Patient draußen ist, kommt die Beste aller Assistentinnen zu mir und meint: „Du, ich hab die I. getroffen und sie hat mir erzählt, ein Patient hätte ihr gesagt, du suchst eine neue Ordinationshilfe!“ „Was?!?!?“ Ich bin fertig. „Du glaubst das hoffentlich nicht? Ich kann ohne dich nicht arbeiten!“ Sie beruhigt mich, dass sie mich gut genug kennt und mir vertraut. Aber mir sitzt der Schreck in den Knochen und ich glaube, ich werde ihr noch wochenlang täglich versichern, dass sie uneingeschränkt und absolut und auf jeden Fall die Beste aller Assistentinnen ist, die ich mir wünschen kann!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune