11. Mai 2016

Dr. Stelzl: Der Schein trügt

Ich eile ins Sprechzimmer, in welchem Frau S. bereits auf mich wartet. „Mei, Frau Doktor“, sagt sie nach der Begrüßung: „Bei Ihnen geht immer alles so rasch und zack, zack. Sie sind immer so gut drauf und so energiegeladen. Da wird man richtig neidisch. Ihre Lebensenergie möchte ich auch mal haben.“ „Da samma scho zwei“, denke ich mir im Stillen. Sehr interessant, wie weit die Außensicht von meiner eigenen Wahrnehmung entfernt ist! Eigentlich weiß ich nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal wirklich ausgeschlafen und wach gefühlt habe in der Früh. Ganz zu schweigen von energiegeladen. Ich weiß auch nicht, wann ich das letzte Mal aufgestanden bin, ohne dass zumindest fünf Gelenke und drei Muskelpartien dabei sauweh getan hätten.

In meinen Schulzeiten hatte ich praktisch nie lernen müssen. Einmaliges Durchlesen eines Textes reichte völlig, um ihn zu memorieren. Jetzt gehe ich manchmal vom Sprechzimmer in die Rezeption, um meiner Assistentin etwas Wichtiges mitzuteilen, und dort angekommen, habe ich es bereits wieder vergessen. Ich überlege, kleine „Post-its“ für sie zu schreiben, damit die wichtigen Dinge nicht endgültig untergehen. Gegen Ordinationsende bin ich oft so geschafft, dass ich mich an der Tischplatte festhalten muss, und so manch ein Satz, der mir dann entweicht erfüllt dann nicht mal mehr die Anforderungen eines Deutschkurses für Ausländer, Level 1.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune