6. März 2015

Dr. Stelzl: Die Erziehung zur Essstörung

Gerade sitzt eine Freundin mit ihrer Tochter in meiner Ordi. Die Kleine hat Halsweh. Ich schaue in diesen Rachen und meine: „Autsch, das muss ja wehtun. Der ist ja schlimm entzündet!“ Meine Freundin sieht mich ungläubig an und meint: „Kann ich mir nicht vorstellen, weil gestern hat sie ein Komplettmenü verputzt und heute auch schon ganz viel gegessen. „Na ja, nun ist es schon in den meisten Fällen so, dass kranke Kinder nicht essen. Auf der anderen Seite tut’s doch oft gut, wenn irgendwas den rauen Schlund hinunterrinnt. Und für die Seele ist Hungern halt auch nicht so toll.“

Ich erkläre den beiden, dass eine Zwölfjährige eine schlimme Pharyngitis haben kann und trotzdem Hunger. „Ja, essen geht immer!“, grummelt die Mama. Ich frage mich im Stillen, was sie damit meint, und mache mit meinem Job weiter. Nach Hals, Ohren und Lunge komme ich zu dem Schluss, dass dreimal täglich Nureflex wohl das Beste sei. Als ich nach den Kilos frage wegen der Dosierung, meint die Kleine, zirka 40. „Kannst schon eine Erwachsene rechnen, so wie sie ausschaut“, meint die Mutter grummelnd. Jetzt krieg ich die Krise. Das Kind ist hübsch, lebendig, durchtrainiert vom Fußball und vom Karate, und ich finde kein Gramm Fett. Ja, sie ist groß, hat 40 Kilo und trägt auch schon BH. Und sie ist sportlich, ein Perpetuum mobile und eigentlich gehört sie auf ein Plakat. Als Vorzeigeexemplar und „role model“.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune