5. Nov. 2014

Leitlinie zur Beschäftigungsfähigkeit bei Epilepsie

arbeit.320 WIEN – Kann ein anfallskranker Maurer auf ein Gerüst steigen? Darf eine Buchhalterin bei einem Bewerbungsgespräch ihre Epilepsie verschweigen? Diese und andere Fragen beantwortet die vom Sozialministerium herausgegebene Leitlinie „Epilepsie am Arbeitsplatz“. Deklariertes Ziel ist es, die Eingliederungschancen von Personen mit Epilepsie am Arbeitsmarkt zu verbessern.

Vorurteile und Unsicherheit sind groß, wenn es um Menschen mit Epilepsie geht, und die Arbeitslosenrate unter den Betroffenen ist ist hoch. Oft wird sogar behauptet, Menschen mit epileptischen Anfällen können und dürfen überhaupt nicht arbeiten. Selbst Betroffene sind wegen falscher Beratung meist verunsichert. Und Unternehmer stellen häufig aus Angst vor Haftungs- und Regressansprüchen Anfallskranke gar nicht ein. Anlässlich des Epilepsie-Tags am 5. Oktober wies deshalb das Sozalministerium auf die Leitlinie „Epilepsie am Arbeitsplatz“ hin: Diese Leitlinie soll Ärzten, Beratern und anderen Fachkräften die individuelle Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und die Risikoabschätzung erleichtern. Dabei wird darauf Rücksicht genommen, welche Art und welcher Schweregrand der Epilepsie vorliegt, heißt es im Vorwort von Mag. Elisabeth Pless, Koordinatorin des Expertenforums (siehe Kasten). Fünf Kategorien der Gefährdung Die Leitlinie ist ein kompaktes, 44-seitiges Nachschlagewerk, das Schritt für Schritt die Vorgangsweise bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit erklärt. Zuallererst gilt es die Anfälle in ihrem Ablauf genau zu beschreiben, um eine Einteilung in fünf arbeitsmedizinisch relevante Gefährdungskategorien – 0, A, B, C oder D – (siehe Diagramm) vornehmen zu können. Relevant sind etwa, ob eine Aura zu Anfallsbeginn auftritt, das Bewusstsein während des Anfalls gestört ist, Sturzgefahr droht oder auch, ob es individuelle Auslöser wie Nachtarbeit gibt. einordnung.580 Sind gleich mehrere Anfallstypen bei einem Patienten vorhanden, ist jener mit der höheren Gefährdung ausschlaggebend. Die Einstufung in die Gefährdungskategorie soll immer durch einen Facharzt für Neurologie, Psychiatrie oder Kinder- und Jugendheilkunde, „vorzugsweise“ mit einer Zusatzausbildung in Epileptologie, erfolgen. Im Falle des eingangs erwähnten Maurers, wo Arbeiten in einer Höhe von bis zu drei Metern über festem Boden ohne Absturzsicherung „berufsbestimmend“ sind, heißt das: Liegt er in der Kategorie A (Anfälle mit Zucken, Versteifen oder Erschlaffen einzelner Muskelgruppen) und beträgt die Anfallsfrequenz ≤ 2/Jahr, bestehen bei Tätigkeiten in bis zu drei Metern Höhe keine Bedenken. Arbeiten in größerer Höhe ohne Absturzsicherung müsste ein Kollege übernehmen. Fällt er jedoch in die Kategorie C (plötzlicher Sturz ohne Schutzreflex, langsames Insich- Zusammensinken, Taumeln und Sturz mit Abstürzen) bei gleicher Anfallsfrequenz, so sieht es mit dem Maurerberuf eher schlecht aus, da er nur Arbeiten in bis zu einem Meter Höhe (z.B. Bockgerüst) erledigen dürfte. Schichtarbeit für manche sogar günstig Wie wichtig eine sorgfältige und individuelle Beurteilung ist, zeigt sich bei der Nacht- und Schichtarbeit. Hier gibt es die Vermutung, dass insbesondere Nachtschichtarbeit bei Personen mit Epilepsie nicht möglich sei, weil einige Studien Schlafentzug als Anfallsauslöser feststellen konnten. Tatsächlich existieren aber laut Leitlinie keine systematischen Untersuchungen zur Auswirkung von Schichtarbeit auf die Anfallsfrequenz. Schichtarbeit müsse auch nicht per se zu einem Schlafentzug führen und könne unter Umständen „sogar günstig“ auf die Lebensführung von Anfallskranken auswirken, etwa durch die zusätzliche Freizeit. Insgesamt sollten daher bei der Bewertung nur Schichtsysteme beachtet werden, die tatsächlich einen Schlafentzug bzw. eine „wesentliche Störung“ des Schlaf-Wach-Rhythmus bedingen. Auch gilt es immer den Einzelfall inklusive der anamnestischen Angaben zu beurteilen. Nur bei bestimmten Epilepsiesyndromen, z.B. der juvenilen myoklonischen Epilepsie, kann Schlafentzug als definitiver Anfallsauslöser gewertet werden. Die Leitlinie hat neben einzelnen Tätigkeiten auch ausgewählte Berufe, wie etwa industrielle elektronische Berufe, nicht-ärztliche Gesundheitsberufe oder pädagogische Berufe, beurteilt. Im Falle der Kinderkrankenpflege etwa reicht die Beurteilung der beruflichen Möglichkeiten je nach Gefährdungskategorie und Anfallsfrequenz von „grundsätzlich keine Bedenken“ über „möglich in der Mehrzahl der Arbeitsplätze“ bis hin zu „möglich in besonderen Fällen“. Immer berücksichtigt ist dabei eine mögliche Fremdgefährdung, z.B. bei der Sicherung von Patienten oder in Notfallsituationen, die ja eine ständige Verfügbarkeit erfordern. Jedoch weisen die Autoren mehrmals darauf hin, dass die Beurteilung der beruflichen Möglichkeiten immer eine Einzelfallbeurteilung darstelle und die getätigte Auswahl lediglich als Entscheidungshilfe diene. Kollegen im Büro freiwillig informieren Zurück zur Buchhalterin: Selbst wenn sie eine aktive Form der Epilepsie mit Bewusstseinsstörung und Sturzgefahr hat, braucht sie diese bei einem Bewerbungsgespräch nicht zu erwähnen. Sie darf sogar eine diesbezügliche Frage verneinen – wahrheitswidrig. Allerdings empfiehlt sich eine freiwillige Info, um Ängste abzubauen. Ein Anfall im Großraumbüro gefährdet zwar niemanden, kann aber doch die Kollegen erschrecken. Der Maurer darf übrigens seine Epilepsie mit Sturzgefahr nicht verschweigen. Tut er das, kann er mit sofortiger Wirkung entlassen werden.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune