3. Apr. 2017

Kritik an krankem Kassen-System

Gibt es einen Mangel an Kassenverträgen wegen berechnender Krankenkassen? Schließlich sind Wahlarzt- und Ambulanz-Besucher aus ihrer Sicht kostengünstige Patienten. (Medical Tribune 13/2017)

Geld regiert die Welt – und immer mehr auch das österreichischen Gesundheitssystem.
Geld regiert die Welt – und immer mehr auch das österreichischen Gesundheitssystem.

Sind Patienten bereits dazu gezwungen, bei Arztbesuchen in die Tasche zu greifen, weil das kassenärztliche System versagt? Ja, meint Dr. Martin Gleitsmann, Geschäftsführer der Plattform Gesundheitswirtschaft der Wirtschaftskammer Österreich: „Im großstädtischen Raum gibt es in einigen Bereichen keinen Zugang mehr zum Vertragssystem, die Menschen müssen daher in großem Stil Wahlärzte aufsuchen und dabei ordentlich Geld in die Hand nehmen.“ Die Diskussion um Selbstbehalte sei „unglaublich verlogen“, empörte sich Gleitsmann am Österreichischen Gesundheitswirtschaftskongress, der vor Kurzem in Wien über die Bühne gegangen ist: „De facto gibt es diese, und sie sind gewaltig.“

 

Zu wenig Verträge

Eine Ausdünnung des kassenärztlichen Bereichs kritisierte Dr. Gerald Bachinger, Sprecher der Österreichischen Patientenanwälte. Er betonte, dass es ihm nicht um die Abschaffung der Wahlärzte gehe, sondern darum, „dass Patienten in einem öffentlichen solidarischen Gesundheitssystem nicht in diesen Sektor gezwungen werden sollen“. Das kassenärztliche System werde seinen Aufgaben immer weniger gerecht – mit dem Ergebnis, dass Patienten auf Wahlärzte und in Ambulanzen ausweichen.

Beides sei für die Kassen „ein gutes Geschäft“, erinnerte Bachinger daran, dass die mangelnde Gegensteuerung auch mit der Finanzierungslogik zu tun habe: „Jede Kasse muss froh sein, wenn Patienten beim Wahlarzt ein zweites Mal in die Tasche greifen, denn erstens wird nur ein kleiner Teil eingereicht und zweitens werden nur bis zu 80 Prozent der Kassentarife vergütet.“ Kostengünstig für die Kassen seien Patienten, die in die Ambulanz gehen, betonte Bachinger, denn dafür sei ja ein anderer Finanzierungsträger zuständig, während die Kassen nur einen pauschalierten Betrag beisteuern müssten.

Dass das kassenärztliche System zunehmend schwächelt, meint auch der Wiener Ärztekammer-Präsident Dr. Thomas Szekeres und belegte dies mit Zahlen: „Wir haben heute 1650 Kassenärzte in Wien, 2010 waren es noch 1741. Die Zahl der Kassenverträge geht zurück, während Wien explosionsartig wächst und die Menschen immer älter werden und mehr medizinische Hilfe benötigen.“ Der Grund dafür sei die „Nicht-Verfügbarkeit der Verträge“, sieht Szekeres die Bringschuld bei den Krankenkassen. Denn was die Ärzte betrifft, so fänden sich trotz schlechter Bezahlung immer noch ausreichend Bewerber, um die Verträge zu besetzen – mit Ausnahme weniger Verträge im Bereich der Kinderheilkunde. Verschärft werde die Mangel-Situation noch dadurch, dass durch die Reduktion der durchschnittlichen Arbeitszeit von 70 auf 48 Stunden auch „die Leistungsfähigkeit der Spitäler gesunken“ sei.

Der Krankenkassen-Schelte schloss sich Dr. Friedrich Anton Weiser, Gründer der Gruppenpraxis „Medico Chirurgicum“, an und nannte ein Beispiel aus der Praxis: So betrage etwa der zwischen Kammer und Kasse ausverhandelte Tarif für eine Kolonoskopie 200 Euro, während die Kosten dafür laut „drei unabhängigen, auch der Kasse bekannten Kostenkalkulationen“ bei 350 Euro lägen. „Die Krankenkassen nehmen also stillschweigend zur Kenntnis, dass wir uns durch Zuzahlungen irgendwie querfinanzieren. An sich finde ich das widerlich“, sagte Weiser und schloss sich Bachingers Kritik an der Finanzierungslogik des Systems an: Seit Jahren sei von Auslagerung vom Spitalsbereich in den niedergelassenen Bereich die Rede, aber in Wahrheit habe niemand ein Interesse daran, den niedergelassenen Bereich zu fördern.

Ein schmales Segment

Wahlärzte seien immer noch „ein sehr schmales, wenn auch ein notwendiges Segment“, betonte indes Dr. Rainer Thomas, Direktor im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, und verwies auf Zahlen der Sozialversicherung: Während für den niedergelassenen Bereich 2,5 Milliarden Euro pro Jahr aufgewendet würden, gebe die Sozialversicherung für Wahlärzte vergleichsweise schlappe 180 Millionen Euro im Jahr aus. Unterstützung bei der Verteidigung der Sozialversicherung erhielt Thomas von unerwarteter Seite: „Die wirtschaftliche Situation der Stadt Wien ist nicht gerade rosig, es gibt viele Arbeitslose und Pensionisten. Das spiegelt sich in der finanziellen Ausstattung der Gebietskrankenkasse wider, die dann unflexibel sein muss, was die Finanzierung von Kassenärzten betrifft“, räumte Szekeres ein.

Hohe Kosten

Viele Kosten – und Patientenängste – seien durch die fehlende Steuerung verursacht, betonte Dr. Susanne Rabady, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin: „Man weiß aus Erhebungen, dass pro Patient in der Allgemeinpraxis etwa drei Beratungsanlässe pro Konsultation anfallen, 80 bis 90 Prozent werden abschließend behandelt. Wenn der gleiche Patient keinen Hausarzt hat, sucht er drei Fachärzte auf und dabei verkalkuliert er sich auch noch bei einigen Symptomen.“

Die ungelöste Frage des Verhältnisses der Versorgungsebenen zueinander werde auch durch das aktuelle Primärversorgungskonzept „überhaupt nicht berührt“, kritisierte Rabady. Außerdem würden Primärversorgungszentren erst recht ungeheuer viel Geld kosten: „Kein Mensch redet darüber, was 60 Stunden Betriebszeit an Personalkosten verursachen.“

9. Österreichischer Gesundheitswirtschaftskongress; Wien, 15. März 2017

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune