7. Feb. 2017

Ein Viertel der KrankenhauspatientInnen sind Opfer häuslicher Gewalt

Studie: Quer durch die Ambulanzen der Uniklinik Innsbruck wurden Patientinnen und Patienten befragt, ob sie Opfer sexueller, körperlicher oder verbaler Gewalt sind. Das Ergebnis ist alarmierend. Die Mehrzahl von ihnen wünscht sich, dass Ärztinnen und Ärzte das Tabuthema ansprechen.

Univ.-Prof. Dr. Gerhard Schüßler, Univ.-Prof. Dr. Astrid Lampe, Dr. Thomas Beck
v.l.n.r.: Univ.-Prof. Dr. Gerhard Schüßler,
Univ.-Prof. Dr. Astrid Lampe, Dr. Thomas Beck

„Jede/r Vierte, der/die an der Klinik Innsbruck eine Ambulanz oder einen Behandlungsraum betritt, ist potenziell von aktueller Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen“, erläutert Dr. Thomas Beck, Psychologe und Leiter der Opferschutzgruppe der Klinik Innsbruck, das Ergebnis einer Studie. Das sind Fakten, die klinikweit für Aufsehen sorgen und „riesiges Interesse wecken“, sich an den Schulungs- und Sensibilisierungsprogrammen der Opferschutzgruppe zu beteiligen, betont Beck.

Aber der Reihe nach: Die Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Innsbruck ist nicht bettenführend und bietet den Patientinnen und Patienten u. a. eine Traumaambulanz an. Im Konsiliar- und Liaisondienst ist das Team der Medizinischen Psychologie und Psychotherapie an vielen Kliniken des Hauses tätig, erklärt Klinikchef Univ.-Prof. Dr. Gerhard Schüßler. Ein Schwerpunkt dabei war und ist die Gynäkologie mit vielen Patientinnen, die immer wieder unterschiedlichen Formen von Gewalt ausgesetzt waren und sind. „Im Lauf der Zeit wuchs das Bewusstsein in der ganzen Versorgungskette, dass nicht nur Frauen von Gewalt betroffen sind, sondern häufig auch Männer. Schließlich wollten wir herausfinden, wie es wirklich aussieht“, umreißt Schüßler die Ausgangsbedingungen.

International gibt es wenige Studien, die darüber Auskunft geben, wie viele Gewaltopfer in Krankenhäusern ärztliche/therapeutische Leistungen in Anspruch nehmen. Für die Leiterin der Traumaambulanz, Univ.-Prof. Dr. Astrid Lampe, war klar, dass es generell lange dauert, bis Gewaltopfer spezifische Beratungseinrichtungen aufsuchen. Lange vorher gehen Betroffene in ihrer Not zu Ärztinnen/Ärzten, sei es zu Niedergelassenen oder im Krankenhaus. Bei diesen Arztbesuchen geht es aber in den seltensten Fällen um die Gewalterfahrung, sondern um somatische Störungen.
Lampe und Beck entwickelten federführend einen Fragebogen in mehreren Sprachen, mit dem Studierende und Dissertantinnen und Dissertanten in die verschiedenen Ambulanzen der Innsbrucker Klinik losgeschickt wurden. Während Patientinnen und Patienten dort auf ihre Behandlung warteten, wurden sie gebeten, den Fragebogen anonym auszufüllen. Gefragt wurde nach drei Formen von aktueller Gewalterfahrung innerhalb der letzten drei Jahre: sexualisierte Gewalt, körperliche Gewalt und psychische Gewalt. Unter Letzterer wurde nach verbaler Gewalt gefragt: „Werden Sie häufig beleidigt, erniedrigt, gedemütigt, wird Ihnen damit gedroht, Ihnen etwas anzutun?“, erläutert Lampe.

26 Prozent sind Gewaltopfer

1.800 Fragebogen wurden ausgefüllt, wobei die Beteiligung von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund unterdurchschnittlich blieb. Die Auswertung der Fragebögen brachte einigermaßen überraschende Ergebnisse: 26 Prozent der Patientinnen und Patienten haben angegeben, akut von häuslicher Gewalt betroffen zu sein, annähernd gleich viele Männer wie Frauen. Bei der sexualisierten Gewalt sind Frauen fast ausschließlich und bei der körperlichen Gewalt überwiegend die Opfer. Hingegen weist das Studienergebnis bei der verbalen Gewalt deutlich mehr Männer als Opfer aus.
Weit überwiegend spielt sich die Gewalt innerhalb von Partnerschaften ab. Der vermeintliche Widerspruch zu den Zahlen von Opferschutzorganisationen löst sich für Lampe weitgehend dadurch auf, dass die emotionale Gewalt im Fragebogen thematisiert wurde.
Wenig überraschend ist, dass die Patientinnen und Patienten mit Gewalterfahrung häufig unter Depressionen, Angststörungen und Traumafolgeerkrankungen leiden. Sie sind übererregt, leicht reizbar, „machen aus einer Mücke einen Elefanten“. Intrusionen (plötzliche Bilder von der Gewalt, die sie in der Nacht vorher erlebt haben) lösen dissoziative Zustände aus; sie sind abwesend, können sich nicht konzentrieren. „Außerdem haben die Betroffenen Somatisierungen, und es ist daher nicht verwunderlich, dass wir Patientinnen und Patienten mit häufigeren Gewalterlebnissen vorwiegend dort finden, wo chronische Schmerzpatientinnen und -patienten das Krankenhaus aufsuchen – bei Magen-Darm-Problemen und Hauterkrankungen“, erklärt Lampe. „Das ist brandneu, so konkret hat sich das noch nie gezeigt.“
Die Frage „Sind Sie im Krankenhaus nach Gewalt gefragt worden?“ haben fünf Prozent aller Befragten mit „ja“ beantwortet, aber nur vier Prozent jener, die Gewaltopfer sind. Zugleich formulieren 70 Prozent aller Befragten, dass sie es wichtig finden würden, dass derartige Fragen gestellt werden. Dabei wird überwiegend der Wunsch geäußert, dass Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal – und nicht Psychiaterinnen und Psychiater, Psychologinnen und Psychologen und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – sich des Themas annehmen, zumindest im Krankenhausalltag.

Keine Red Flags

Klar verneint wird von den Studienautorinnen und Studienautoren die Frage nach Red Flags, also leicht fassbaren Kriterien, welche die Sensibilität des medizinischen Personals erhöhen könnten: Gewalt zieht sich durch alle Bildungsschichten und Altersgruppen, es gibt keine Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Häufigkeit von Krankenhausaufenthalten und Ambulanzbesuchen gibt ebenfalls keine Hinweise.
Allerdings belegt die Studie, dass es biografische Risikofaktoren gibt. Demnach haben Menschen, die in der Kindheit Zeuginnen und Zeugen von Gewalt waren (an Geschwistern oder Elternteilen) ein größeres Risiko, später gewalttätige Partnerinnen und Partner zu wählen. Analog gilt das auch für die Gewalt durch Peers: Mobbing in der Schule ist ein prädiktiver Faktor für die spätere Beziehungswahl.

Unabhängig vom Studienergebnis bietet die Opferschutzgruppe unter der Leitung von Thomas Beck dem medizinischen Personal der Innsbrucker Klinik ein Sensibilisierungsprogramm zum Erkennen von Gewaltopfern und zum Umgang mit diesen an. „Viele Gewaltopfer zeigen sich ängstlich in der Beziehungsgestaltung, sie geben sich für viele Dinge selbst die Schuld, äußern sich im Sinne von ‚ich bin zu dumm, kann das nicht‘“, sagt Beck. In den Schulungen geht es daher darum, Bewusstsein auf Behandlerinnen- und Behandlerseite zu entwickeln: „Schaut auf die Beziehungsgestaltung, das ist der große Anker, den wir haben, damit die Gewalt Thema wird“, formuliert Beck.
Hausärztinnen und Hausärzte mit ihren häufigeren und vertrauensvollen Patientinnen- und Patientenkontakten seien prädestiniert, an solchen Schulungsprogrammen teilzunehmen. Beck ist aber schon froh, wenn es gelingt, das klinikinterne Interesse zufriedenzustellen.
Zugleich öffnet die angepeilte Enttabuisierung des Gewaltthemas riesige Ressourcendefizite. Schon jetzt stößt die Ambulanz der Uniklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie an personelle Grenzen: „Wir können nur einen Bruchteil der Patientinnen und Patienten behandeln, die an uns überwiesen werden. Um alle betreuen zu können, bräuchten wir das halbe Personal der Universitätskliniken Innsbruck“, sagt Klinikvorstand Schüßler. „Wir können überwiegend nur motivieren, teilweise diagnostisch klären und weitervermitteln. Allerdings bräuchte es dafür Strukturen in der Republik Österreich, die das dann auch tragen.“ Derzeit gibt es diese Strukturen (Stichwort: Psychotherapie auf Krankenschein) nur unzureichend.