
American College of Cardiology 2023
Kardiologie: individuelle Risikoabschätzung mit KI

Anfang März fand in New Orleans der jährliche Kongress des American College of Cardiology gemeinsam mit dem World Congress of Cardiology der World Heart Federation statt. Präsentiert wurde unter anderem die individuelle Risikoabschätzung mithilfe künstlicher Intelligenz.
Empfehlungen betreffend die kardiovaskuläre Prävention werden auf Basis statistischer Daten erstellt und reflektieren nicht immer das individuelle Risiko konkreter Personen, so Prof. Dr. Brian Ference von der Universität Cambridge. In der Folge kommt es auch bei Einhaltung der empfohlenen Maßnahmen nach wie vor zu kardiovaskulären Ereignissen. Andererseits erleiden bei weitem nicht alle Personen, die die Zielwerte für Blutdruck oder Plasmalipide nicht erreichen, ein solches Ereignis. Ein wichtiger Faktor ist dabei das individuelle genetische Risiko. Dieses wird in polygenetischen Risiko-Scores, die auf Basis genomweiter Assoziationsstudien erstellt werden, quantifiziert.
Polygenetischer Score kombiniert genetische Varianten von Pathways
Eine Gruppe der Universität Cambridge hat nun mithilfe künstlicher Intelligenz modelliert, wie sich dieses genetische Risiko auf die zu erreichenden Risikoparameter auswirkt. Die Ergebnisse wurden von Ference im Rahmen einer Late-Breaking Clinical Trials Session des American College of Cardiology präsentiert. Ein polygenetischer Score kombiniert genetische Varianten aller bekannten Pathways, die zu koronarer Herzkrankheit führen, und liefert daher keine spezifische Information darüber, wie dieses Risiko zustande kommt, wie man es senken kann oder wie stark Individuen von bestimmten Maßnahmen profitieren können, so Ference. Aus diesen Gründen bestehe substanzielle Unsicherheit, wie polygenetische Scores für Behandlungsentscheidungen auf individueller Ebene genützt werden können. Die Lage wird noch dadurch verkompliziert, dass in der Prävention in aller Regel mehrere Parameter gleichzeitig beeinflusst werden und beispielsweise für LDL-Cholesterin und systolischen Blutdruck voneinander unabhängige, additive, kausale und kumulative Effekte auf das kardiovaskuläre Risiko haben.1
Die kausale künstliche Intelligenz
Hier kommt kausale künstliche Intelligenz (causal AI) ins Spiel, die biologische Gründe und Wirkungen erfassen und daraus Algorithmen erstellen kann, die in der Lage sind, sowohl Outcomes vorherzusagen als auch spezifische Maßnahmen zu empfehlen, mit denen diese Outcomes beeinflusst werden können. Dabei werden sowohl die Effekte von Veränderungen modifizierbarer Risikofaktoren als auch deren Wirkung über die Zeit modelliert. So entstehen Algorithmen, die die Biologie einer Erkrankung über die Zeit beschreiben, so Ference. Diese Algorithmen seien auch gut erklärbar, da sie zeigen, warum eine konkrete Person ein bestimmtes Risiko aufweist, wie dieses Risiko reduziert werden kann und wie weit diese Person von einer spezifischen Maßnahme profitieren kann. Diese Algorithmen können anhand der empirischen Information aus Studien überprüft werden.
Genetisches Risiko durch Prävention ausgleichen
Um diese Hypothesen am Beispiel der kardiovaskulären Prävention zu überprüfen, trainierten Ference und seine Gruppe ihre KI an Daten von 1,8 Millionen Personen (1.320.974 aus Mendelian Randomization Studien und 527.512 aus 76 randomisierten, klinischen Studien zu Lipid- oder Blutdrucksenkung). Weiters wurden 4.051.820 genetische Varianten aus genomweiten Assoziationsstudien in die Berechnungen einbezogen. Auf dieser Basis wurde zunächst das individuelle genetische Risiko von 445.765 Personen aus dem UK Biobank Register bestimmt und in Perzentilen eingeteilt. Die 50. Perzentile wurde für die weiteren Berechnungen als Referenz herangezogen. Dieser polygenetische Risiko-Score darf nicht mit dem familiären Risiko verwechselt werden. Eine koronare Herzerkrankung naher Verwandter erhöht das Risiko unabhängig vom errechneten Score. Kommen ein hoher polygenetischer Score und familiäre Belastung zusammen, wirken diese Faktoren additiv.
Nun wurde die Frage gestellt, um wie viel Personen aus höheren Perzentilen ihr LDL-Cholesterin und/oder ihren Blutdruck senken müssen, um auf das gleiche Risiko zu kommen wie Personen in der 50. Perzentile. Dabei zeigte sich, dass die Effekte des genetischen Scores relativ moderat ausfallen. Wer in die 80. Perzentile fällt, hat im Vergleich zu einer Person aus der 50. Perzentile ein um rund 30 Prozent erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Das bedeutet, er muss sein LDL-Cholesterin um 14mg/dl senken, um auf ein vergleichbares Risiko zu kommen. Gelingt zusätzlich eine Senkung des systolischen Blutdrucks um lediglich 2,5mmHg, so genügt eine LDL-Senkung um 7mg/dl. Personen, die in die 90. Risiko-Perzentile fallen, haben ein um 50 Prozent erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und müssen ihr LDL-C um 10mg/dl und den systolischen Blutdruck um 3,6mmHg senken, um auf das Risiko der 50. Perzentile zu kommen.
Durchschnittswerte über die gesamte Lebensspanne
Allerdings reflektieren diese Berechnungen Durchschnittswerte über die gesamte Lebensspanne. Betrachtet man einzelne Altersgruppen getrennt und bezieht damit die kumulative Exposition ein, so ergibt sich in höherem Alter ein höherer Bedarf nach Modifikation von Risikofaktoren. So ist für eine 65-jährige Person auch in der 80. Perzentile schon eine Reduktion des LDL-C um 21,3mg/dl plus eine Blutdrucksenkung um 8,0mmHg erforderlich, um auf das Risiko der 50. Perzentile zu kommen. Wird die Modifikation der Risikofaktoren bereits mit 35 Jahren begonnen, so genügen eine LDL-Senkung um 7,4mg/dl plus 2,5mmHg Blutdrucksenkung. Werden nur Blutdruck oder Cholesterin modifiziert, müssen die Reduktionen entsprechend deutlicher ausfallen. Eine App zur Berechnung des individuellen Risikos und der sich daraus ergebenden Zielwerte soll in nächster Zeit verfügbar sein.“
„Late-Breaking Clinical Trials“, American College of Cardiology (ACC), World Congress of Cardiology (WCC) der World Heart Federation, New Orleans, 4.–6.3.23