13. März 2023Wiener Intensivmedizinische Tage (WIT)

Kapilläre Filtration: Komplizierter als gedacht

Konzept der Interstitium-Orgel
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Interstitium-Organ-Konzept als Binde­gewebe mit flüssigkeitsgefüllten Kompartimenten.

Der Aus- und Eintritt von Flüssigkeit durch das Endothel der Kapillaren wurde noch vor Kurzem als einfacher und passiver physikalischer Prozess gedacht. In den letzten Jahren ist man jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich um komplexe Regulationsvorgänge sowohl aufseiten des Endothels als auch aufseiten des Interstitiums handelt. Dies hat insbesondere beim Flüssigkeitsmanagement in der Intensivmedizin hohe praktische Bedeutung.

Fragen der Hydrierung und des Flüssigkeitshaushalts stellen zentrale Probleme der intensivmedizinischen Behandlung dar. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Interstitium zu – einem Organ, das nach wie vor erst in Ansätzen verstanden wird, so Univ.-Prof. Dr. Wilfred Druml von der Medizinischen Universität Wien, der betont, dass das Interstitium bis vor Kurzem ausschließlich als passives Stützgewebe wahrgenommen wurde, in das Flüssigkeit ein- und wieder auslaufen kann.

Erst 2018 wurde mithilfe von konfokaler Laserendomikroskopie (pCLE) in der Submukosa des Gallengangs eine in retikulären Mustern angeordnete, interstitielle, flüssigkeitsgefüllte und durch Kollagenbündel stabilisierte Struktur beschrieben. Die Drainage aus diesen mikroskopischen Gängen erfolgt in das Lymphsystem. Die gleiche Gruppe fand in der Folge ähnliche Strukturen auch in anderen Organen und stellte die Hypothese auf, dass diese anatomischen Strukturen von Bedeutung für die mechanische Funktion vieler oder vielleicht sogar aller Organe, aber auch für Metastasierung, Infektion, Ödeme und Fibrose sein könnten.1 Dieses Netzwerk wurde mittlerweile im gesamten Organismus beschrieben.2

Interstitium greift aktiv in Flüssigkeitshaushalt ein

Damit dürfte das Interstitium als „zentrales Organ für den Volums- und Flüssigkeitshaushalt“ funktionell wesentlich komplexer sein als bislang angenommen, womit auch die klassische Sicht der Regulation des Flüssigkeitshaushalts infrage gestellt wird. Diese ging davon aus, dass durch den hydrostatischen (also den Blutdruck) und den kolloidosmotischen (onkotischen) Druck in den Kapillaren Flüssigkeit aus diesen Kapillaren austritt. Dem stehen der onkotische und der hydrostatische Druck in der Interstitialflüssigkeit entgegen. Da Proteine (im Gegensatz zu Elektrolyten) nicht aus der Kapillare austreten können, sind sie für den onkotischen Druck in Kapillare und Interstitium verantwortlich. Der hydrostatische intravasale Druck und der onkotische interstitielle Druck drücken Wasser ins Interstitium, der hydrostatische interstitielle Druck und der onkotische intravasale Druck halten Wasser im Gefäß. Im arteriellen Schenkel ist der hydrostatische Druck im Gefäß hoch und im Interstitium niedrig, im venösen Bereich kehren sich die Druckverhältnisse um und es kommt zum Rückstrom von Flüssigkeit in die Gefäße. Übrig bleibendes Wasser wird über die Lymphbahn abgeführt. Aus den vier Parametern hydrostatischer und onkotischer Druck in Gefäß und Interstitium ergäbe sich der effektive Filtrationsdruck als Maß dafür, wie viel Flüssigkeit aus dem Gefäß in das Interstitium gelangt – so die auch als Starling-Prinzip bekannte klassische Sicht der kapillären Filtration.

Allerdings wird diese Vorstellung eines passiven Röhrensystems der physiologischen Realität nicht gerecht. Vor einigen Jahren konnte im Tiermodell gezeigt werden, so Druml, dass ein Abfallen des kolloidosmotischen Druckes (KOD) im Plasma von einem Abfallen des KOD im Interstitium begleitet wird, das damit aktiv auf die geänderten Druckverhältnisse reagiert und den transkapillären KOD in einem weiten Bereich konstant hält. Erst wenn der Plasma-KOD unter 12mmHg abfällt, versagt diese Regulation. Die Flüssigkeitsspeicherung im Interstitium wird, so Druml weiter, durch zwei entgegengesetzte Mechanismen reguliert, nämlich einmal durch an Kollagenfibrillen geheftete Fibroblasten, die zur Reduktion des Gelvolumens führen. Dies bewirkt eine Senkung des interstitiellen Volumens und eine Erhöhung des interstitiellen Druckes. Den gegenteiligen Effekt hat die Bildung von Glykosaminoglykanen, die den Imbibitionsdruck erhöhen und über diesen „Schwamm-Effekt“ eine Erhöhung des interstitiellen Volumens und eine Senkung des interstitiellen Druckes bewirken. Damit werden interstitieller Druck und interstitielles Volumen aktiv reguliert. Man spricht von interstitieller Compliance. Diese wird beispielsweise durch Inflammation beeinflusst.3

Probleme bei Volumenzufuhr: das saugende Interstitium

Diese Volumenseffekte sind kontextspezifisch, was dazu führt, dass iatrogene Volumenzufuhr situationsabhängig unterschiedliche Auswirkungen hat und zu einer problematischen Überladung mit Flüssigkeit führen kann.4 Verschiedenste Faktoren wie beispielsweise proinflammatorische Zytokine können dazu führen, dass der in den meisten Organen leicht negative interstitielle Druck stark negativ (in Extremfällen z.B. nach Verbrennungen bis zu -150mmHg) werden kann, wodurch es zum Ausströmen von Flüssigkeit in das Interstitium kommt, wie in einem Tiermodell für Sepsis gezeigt werden konnte.5 Man könne also sagen, so Druml, dass das Interstitium die Flüssigkeit in manchen Situationen aktiv aus dem Blutkreislauf heraussauge. Dieser Effekt komme zu der z.B. bei Sepsis gesteigerten Permeabilität der Kapillaren hinzu und könne extreme Auswirkungen haben. Dass sich die resultierende Ödembildung nach Verbrennungen durch die Gabe hoher Dosen von Vitamin C reduziert, wurde ebenfalls im Tiermodell demonstriert.6

Die Flüssigkeit, die aus den Kapillaren in das Interstitium filtriert wird, muss weitertransportiert werden. Dies ist die Aufgabe des Lymphsystems, das ebenso umfangreich ist wie das System der Blutgefäße. Lymphgefäße enden blind, haben größere Durchmesser als Kapillaren, glatte Muskelzellen und unidirektionale Klappen. Sie pumpen Lymphe von subatmosphärischem Druck gegen sehr viel höheren Druck in die Venen und können den Fluss um mehr als das 25- Fache steigern. Die Pumpaktivität wird durch mechanische Faktoren wie Druck, Volumen oder Fluss-Shear-Stress sowie durch verschiedene vasoaktive Mediatoren beeinflusst. Hier sieht Druml die Möglichkeit, in Zukunft mit Medikamenten einzugreifen, und damit ein neues therapeutisches Target in der Behandlung von Patient:innen auf Intensivstationen. Antioxidanzien sind Kandidaten für diese Indikation.

Natriumüberladung erhöht Energiebedarf und Muskelkatabolismus

Die Atmung beeinflusst den Lymphfluss. Zumindest im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass invasive Beatmung mit hohem Beatmungsdruck die Lymphproduktion steigert und gleichzeitig den Abfluss von Lymphe erschwert.7 Ein gestörter Abfluss von Lymphe wurde auch als Risikofaktor für eine Lungenschädigung im Verlauf einer Sepsis identifiziert.8 Zu den Faktoren, die den Lymphabfluss behindern können, zählt nicht zuletzt ein erhöhter intraabdomineller Druck. Dieser korreliert daher nachweislich mit dem extrazellulären Wassergehalt.9 Dass hier viele Fragen offen sind, zeigen jedoch nicht zuletzt Studien im Tiermodell, die ergaben, dass bei Ratten im Schock die Lymphe selbst toxisch und ihr Abfluss ins venöse System schädlich werden kann.10

Nicht zuletzt weist Druml auch auf die Fähigkeit des Interstitiums hin, aktiv Natrium zu speichern und damit beispielsweise den Flüssigkeitsverlust über die Haut zu regeln. Im intensivmedizinischen Kontext bedeutet dies jedoch, dass erhebliche Mengen an infundiertem Natrium sowie Chlorid im Interstitium quasi versickern.11 Dies schaffe jedoch das Problem einer Salzüberladung durch erhöhte Salzzufuhr, zumal hohe Salzkonzentrationen den Muskelkatabolismus und den Energiebedarf steigern.12 Darüber hinaus habe sich gezeigt, dass hohe Natriumkonzentrationen proinflammatorisch wirken können, da sie unter anderem die Ausschüttung von Zytokinen fördern und die T-Zell-Suppression reduzieren, was auch mit einer Einschränkung der Wundheilung assoziiert ist.13

Für den klinischen Alltag bedeute dies, so Druml weiter, dass das größte Problem für das Interstitium die Überladung mit Wasser und Salz ist, zumal Hypervolämie Multiorganversagen begünstigt. Das wichtigste therapeutische Ziel sei daher die Individualisierung der Infusionstherapie zur Vermeidung einer Volumen- bzw. Salzüberladung.

Unterschätzt: vielfältige Regelfunktionen der Glykokalyx

Neben dem Interstitium ist das vaskuläre Endothel ein weiterer wichtiger Faktor für den Flüssigkeitshaushalt, welches Funktionen für die Aufrechterhaltung der vaskulären Homöostase ausübt. Das Endothel ist entscheidend für die Permeabilitätsbarriere und den Vasotonus, es spielt eine entscheidende Rolle für Koagulation, Wachstum und Remodelling sowie Entzündungsreaktionen. Die Wände der Kapillaren stehen zwischen dem intravasalen Volumen von insgesamt rund drei Litern und dem interstitiellen Volumen von zwölf Litern. Ionen können die Kapillarwand in beide Richtungen passieren, Proteine können das nicht. Auch die zunehmend besser verstandene Funktion des vaskulären Endothels hat Anteil daran, dass das Starling-Prinzip die beobachteten Phänomene der Flüssigkeitshomöostase nicht vollständig erklären kann, wie Prof. Dr. Daniel Chappell, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie am Varisano Klinikum Frankfurt Höchst, ausführt.

Ein wichtiger Faktor ist dabei die Glykokalyx. So wird der an Proteine oder Lipide gebundene Kohlenhydratanteil der extrazellulären Seite der Zellmembran bezeichnet. Im Falle des vaskulären Endothels reichen diese Strukturen weit in das Lumen hinein und bilden einen dichten Saum, auf dem beispielsweise Erythrozyten gleiten, ohne die Gefäßwände direkt zu berühren. Plasmaproteine gelangen hingegen, ebenso wie Plasma, leicht in die Glykokalyx. Das dort gespeicherte Plasmavolumen nimmt nicht an der Zirkulation teil, so Chappell. Die Schicht zwischen der Gefäßwand und dem fließenden Blut wird als Endothelial Surface Layer bezeichnet und stellt die physiologisch aktive Form der Glykokalyx dar, wobei zwischen der mit Protein beladenen Schicht der Glykokalyx und der Oberfläche des Endothels ein proteinfreier Spalt besteht. Proteine, die in diesen Spalt gelangen, werden in das Interstitium ausgespült. Der onkotische Druckgradient zwischen diesem Spalt und der darüberliegenden Schicht der Glykokalyx ist relevant für die tatsächlich stattfindende kapilläre Filtration. Im Gegensatz zum Gesamtsystem treffen die von Starling postulierten Prinzipien in diesem Bereich zu, so Chappell.

Geschädigte Glykokalyx bedeutet schlechtere Prognose

Die Glykolalyx kann durch eine Vielzahl pathologischer Prozesse geschädigt werden. Chappell nennt u.a. Ischämie bzw. Reperfusion, Diabetes, Atherosklerose, Sepsis, Trauma oder Hypervolämie. Es sind dies Zustandsbilder, die auch traditionell mit einer Störung der Gefäßbarriere bzw. endothelialer Dysfunktion in Verbindung gebracht werden. Die Schädigung im Sinne einer Ausdünnung der Glykokalyx trägt durch eine Verminderung der Barrierefunktion zur Bildung von Ödemen bei. Darüber hinaus hat eine geschädigte Glykokalyx auch mechanische Konsequenzen für das Gefäß und bedingt Vasotonus. Gehen die antiinflammatorischen Effekte einer gesunden Glykokalyx verloren, so provoziert dies Inflammation und im schlimmsten Fall Sepsis. Hinzu kommt eine Störung des mikrovaskulären Blutflusses, die zu Ischämie führen oder dazu beitragen kann. Und nicht zuletzt beeinflusst der Verlust der Glykokalyx auch die Koagulation und begünstigt die Bildung von Thrombosen. Auf der Intensivstation korreliert das „Glykokalyx-Shedding“ (diagnostiziert durch erhöhten Syndecan-1-Spiegel bei Aufnahme) mit erhöhtem Vasopressorenbedarf, Inflammation und Koagulopathie und stellt letztlich einen unabhängigen Prädiktor von Mortalität dar.14 Auch in einer Studie mit mehr als 200 Proband:innen mit schwerer Sepsis waren erhöhte Syndecan-1-Spiegel mit Kreislaufversagen, Leber- und Nierenversagen, Koagulopathie und höherem Bedarf an Vasopressoren assoziiert.15 Allerdings gibt es durchaus Situationen, in denen das Shedding der Glykokalyx physiologisch sinnvoll ist. Als Beispiel nennt Chappell die Schwangerschaft, in der es – vermutlich hormonell bedingt – zu einem teilweisen Abbau der Glykokalyx mit einer daraus resultierenden Einlagerung von Wasser kommt. Dies sei insofern sinnvoll, als der Organismus damit eine Flüssigkeitsreserve anlegt, um den Verlust an Flüssigkeit während der Geburt kompensieren zu können. Geht der Verlust an Glykokalyx allerdings über das physiologische Maß hinaus, wird er auch in der Schwangerschaft gefährlich und ist mit Ödem, Proteinurie, Hypertonie, niedriger Blutplättchenzahl und Inflammation assoziiert – also mit jenen Symptomen und Zeichen, die man vom gefürchteten HELLP-Syndrom als schwerwiegende Komplikation der Präeklampsie kennt. Tatsächlich konnten erhöhte Konzentrationen zirkulierender Glykokalyx-Komponenten bei Patientinnen mit HELLP-Syndrom nachgewiesen werden.16

41. Wiener Intensivmedizinische Tage (WIT), Wien, 15.–18.2.23

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum innere