28. Apr. 2022Medizin und ich

Der Tag des Harns

Manchmal bin ich wirklich stolz auf meine Selbstbeherrschung. Heute zum Beispiel. Ich würde nämlich sehr gerne einen Schreikrampf kriegen, irgendwo dagegentreten oder etwas aus dem Fenster werfen. Wahlweise oder alles zusammen. Warum? Also es begann so. Wie immer hatten wir für unsere Vorsorgepatienten die Harnbecher beschriftet und sie auf einem Tischchen vor der Toilette abgestellt. Schön leserlich in schwarzem Filzstift auf weißen Bechern prangen da die Namen. Das mag vielleicht ein Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung sein, wenn der Maier sieht, dass der Müller auch pinkeln muss, aber es schützt besser gegen Verwechslungen, als wenn man nur die Initialen nimmt. Hatten wir immer gedacht. Bis heute ein Patient mit einem wirklich einzigartigen unaussprechlichen Namen von zwei Bechern den falschen genommen hat. Draufgekommen ist die Patientin danach, die offenbar des Lesens mächtig war.

Medizinisches Konzept der Spermienuntersuchung, künstliche Befruchtung
iStock/Irina Shatilova

Also ist nichts passiert, alles wurde richtig zugeordnet. Ein paar Stunden später ein ähnliches Spiel. Eine Patientin nimmt zwei Becher in die Hand, dreht sie um, schaut sie genauestens an und hält sie dann meiner Assistentin mit der Frage unter die Nase: „Muss ich beide vollmachen?“ Die Dame studiert an der Uni. Offenbar sind sowohl Lesen als auch Denken heutzutage keine Voraussetzungen mehr dafür. Natürlich erklären wir ihr ganz freundlich, dass sie nur in den mit ihrem eigenen Namen beschrifteten Becher pinkeln muss. Zumal auf dem anderen ja ein ganz fremder Name steht.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune