7. Dez. 2021Die Gesichter Seltener Erkrankungen – Teil 6

Hyperinsulinismus (KHI) – „Ich habe Anti-Diabetes“

Wenn Stella Promussas ihren Studienkollegen ihre Krankheit erklärt, dann sagt sie, sie habe „Anti-Diabetes“

Wenige Wochen nach der Geburt wurde bei der heute 22-jährigen Studentin Stella Promussas die Diagnose Kongenitaler Hyperinsulinismus (KHI) gestellt. Gemeinsam mit ihrer langjährigen Kinderärztin Univ.-Prof. Dr. Birgit Rami-Merhar, MBA, beschreibt sie Krankheitsmanagement und Therapie dieser Seltenen Erkrankung.

Wenn Stella Promussas ihren Studienkollegen ihre Krankheit erklärt, dann sagt sie, sie habe „Anti-Diabetes“: „Diabetes kennen die meisten, und wenn ich dann ergänze, dass im Unterschied zu Diabetes der Blutzucker bei mir viel zu niedrig ist, es sich aber genauso um eine 24-Stunden-Erkrankung handelt, dann bekommen die meisten einen ungefähren Eindruck.“

Mit dieser Erklärung gegenüber Laien gibt sich auch die Leiterin der Pädiatrischen Diabetologie an der Universitäts-Kinderklinik in Wien, Univ.-Prof. Dr. Birgit Rami-Merhar, MBA, zufrieden.

„Typischerweise fallen erkrankte Kinder in den ersten Lebenstagen durch Hypoglykämien auf, die mit Krampfanfällen einhergehen können. Wird während der Hypoglykämie ein erhöhter Insulinspiegel nachgewiesen, ist dies ein konkreter Hinweis darauf, dass es sich um Hyperinsulinismus handeln kann“, erklärt Rami-Merhar. Während bei Stella erst im Teenageralter ein genauer genetischer Befund erhoben werden konnte, ist es durch neuere genetische Forschungen heute möglich, innerhalb von zehn Tagen eine genaue genetische Diagnose zu stellen. Die Genetik gibt zudem Aufschlüsse, ob es sich um eine diffuse oder fokale Form von KHI handelt.

Dauertherapie

Da bei Stella eine diffuse Form vorliegt, besteht ihre Therapie in einem konsequenten Ernährungsmanagement mit häufigen Mahlzeiten und kohlenhydratreicher Ernährung sowie in der dauerhaften Infusion des Somatostatins Octreotid, das als Gegenspieler des Insulins den Insulinspiegel senkt. „Ohne die Dauerinfusion, für die wir eine Insulinpumpe adaptiert haben, müsste das Medikament alle acht Stunden subkutan injiziert werden. Mittlerweile gibt es jedoch bereits langwirksame Präparate, die in Depotform alle  vier bis sechs Wochen verabreicht werden können“, ergänzt Rami-Merhar. „Für mich ist die Zufuhr über eine Dauerinfusion jedoch praktikabler: Wenn ich etwa Sport betreibe und alleine mit der Ernährung den Blutzucker nicht hoch genug halten kann, dann hilft mir ein Bolus, den ich selbst setzen kann“, sagt Stella Promussas.

Dass sie neben ihrem Studium – Altgriechisch, Latein und Ethik – Sport betreiben kann, war lange nicht selbstverständlich: „Ich habe erst relativ spät zu laufen begonnen und Sport mache ich erst seit der Oberstufe, als ich gelernt habe, nicht mehr so eingeschränkt zu sein. In der Volksschule ließ man mich oft nicht an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen. Im Gymnasium hieß es dagegen: Warum sollst du nicht mitkommen? Du kennst dich aus mit deiner Erkrankung und wir (als Lehrer, Anm.) sind eingeschult, damit umzugehen. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ich bin willkommen“, schildert Stella Promussas. Natürlich sei es manchmal nervig, immer rechtzeitig einen Riegel oder eine Banane essen zu müssen, wenn sich eine Unterzuckerung bemerkbar macht, doch mittlerweile lässt sich die junge Frau nicht vom Bouldern oder von Radtouren mit ihrem Freund abhalten.

Eine ganz große Stütze im Krankheitsmanagement war und ist ihre Mutter, die Pharmazeutin Dr. Irene Promussas: „Es war oft eine große Herausforderung für Stellas Mutter, sich etwa dafür einzusetzen, dass Stella eine Regelschule besuchen durfte“, erinnert sich Rami-Merhar. Wegen einer Erkrankung mit „aufwendigem Management“ sollte das Mädchen eine Sonderschule besuchen. „Dabei braucht es einfach nur Konsequenz im Umgang mit meiner Erkrankung“, sagt Stella selbst. School Nurses wie in angloamerikanischen Ländern könnten Kinder mit chronischen Erkrankungen im Schulalltag unterstützen, ergänzt Kinderärztin Rami-Merhar. Bei Stella bestand die Lösung oft darin, dass eine Begleitperson zu Schulexkursionen mitkam.

Mehr Flexibilität nötig!

Überhaupt wünschen sich Patientin und Kinderärztin mehr Flexibilität im Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem für Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Stella: „Meine Erkrankung erfordert nach wie vor ein sehr umfassendes Management, und das wird nicht weniger, auch wenn ich jetzt erwachsen bin. Ich verstehe nur nicht, warum ich dann beim Ansuchen um Pflegegeld gefragt werde, ob ich etwa die Heizung selbst bedienen kann.“  

Die Transition von der Kinder- und Jugendmedizin hat Stella jedenfalls durch gutes Teamwork vor rund drei Jahren gemeistert. „Glücklicherweise hat sich mit Univ.-Prof. Dr. Michael Krebs (Department für Endokrinologie und Stoffwechsel, Universitätsklinik für Innere Medizin III, Wien) ein Kollege bereit erklärt, die internistische bzw. endokrinologische Behandlung von Stella zu übernehmen. Zudem hatten wir die Chance, mit zwei gemeinsamen Gesprächsterminen eine gute Übergabe zu machen. Das ist sicher eine Ausnahme“, schildert Rami-Merhar.

Was Stella allerdings in der Erwachsenenmedizin vermisst, sind die Ruhe und die ausführlichen Gespräche zwischen Familie und Ärztin: „Jetzt geht es in der Ambulanz deutlich hektischer zu und es ist stets eine Herausforderung, sich auf das Arztgespräch zu konzentrieren und in der kurzen Zeit alle Fragen zu Therapie und Ernährung zu stellen.“

Unterstützung und guten Austausch mit anderen Patienten findet Stella übrigens auch in den Selbsthilfe-Organisationen "Kongenitaler Hyperinsulinismus e.V." (D) und "Congenital Hyperinsulinism International". Dr. Irene Promussas hat in Österreich die Lobby4Kids gegründet mit dem Ziel der Vernetzung von Familien und Initiativen zur Unterstützung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen. https://www.lobby4kids.at/

Fakten-Check: Kongenitaler Hyperinsulinismus (KHI)

Der Kongenitale Hyperinsulinismus ist die häufigste Ursache persistierende Hypoglykämien im Säuglings- und Kindesalter. Charakteristisch ist eine gestörte Insulinsekretion bei zu hohen Konzentrationen von Insulin und rezidivierenden Hypoglykämien. Genetische Ursachen bestehen in unterschiedlichen Defekten im Pathway der Beta-Zellen. Seit rund 20 Jahren können durch genetische Befunde fokale von diffusen Formen unterschieden werden. Bei fokalen Formen oder unklarer Genetik wird ein [18F]Fluor-DOPA-PET/CT zur Differenzierung durchgeführt. Die fokale Form gilt durch einen chirurgischen Eingriff als heilbar, die diffuse Form erfordert genauso wie Diabetes mellitus Typ I ein lebensbegleitendes Krankheitsmanagement.

Univ.-Prof. Dr. Birgit Rami-Merhar, MBA, leitet das Zentrum für seltene Diabetesformen und kongenitalen Hyperinsulinismus an der MedUni Wien

Die Inzidenz des KHI wird auf 1:40.000/Jahr geschätzt; die tatsächliche Häufigkeit in Österreich lässt sich aufgrund eines fehlenden Registers derzeit nicht erheben. An dem von Univ.-Prof. Dr. Birgit Rami-Merhar, MBA, geleiteten Zentrum für seltene Diabetesformen und kongenitalen Hyperinsulinismus an der MedUni Wien werden aktuell 17 Kinder und Jugendliche betreut, zwei bis vier pro Jahr werden neu diagnostiziert, darunter auch solche mit transienten oder milden Verlaufsformen. Das Wiener Zentrum ist bei Orpha.net als Referenzzentrum angeführt, zudem ist es Assoziiertes Nationales Zentrum im Europäischen Referenznetzwerk Endo-ERN.

„Eine rasche Diagnose und Behandlung ist essenziell, um anhaltende Schäden am Gehirn infolge der Unterzuckerung zu verhindern“, betont Rami-Merhar. Um den Zuckerspiegel auszubalancieren, wird allerdings nicht dauerhaft auf Glukosezufuhr gesetzt, denn dies könnte langfristig die Insulinproduktion sogar noch steigern sowie Zahnprobleme verursachen. Reis- oder Maisstärke werden daher in Form nächtlicher Zufuhr über Sonden eingesetzt.

Quelle: Rami-Merhar, B.: Kongenitaler Hyperinsulinismus, J Klin Endokrinol Stoffw 2021; 14: 98105

Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen

Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.

In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.

Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)

In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen