24. Juni 2021Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Psychische Belastungen durch die Pandemie

SARS-CoV-2 ist zweifellos auch eine Herausforderung für unsere Psyche. Doch nicht alle der in den Medien kolportierten Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit können von der Forschung bestätigt werden. So hat beispielsweise die Zahl der Suizide in Österreich 2020 nicht zu-, sondern sogar abgenommen.

Hilfe-, Unterstützungs-, Pflege- oder Wohltätigkeitskonzept. Nach Covid-19
iStock/Maria Stavreva

Darüber, welche Auswirkungen allgemeine Krisensituationen auf Suizide haben, ist relativ wenig bekannt. Laut einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 1992 kam es zwar während der Spanischen Grippe zu einem Anstieg der Suizidrate in den USA, ob man das aber so einfach auf österreichische Verhältnisse und die Jetztzeit übertragen kann, darf doch bezweifelt werden. Schon etwas aussagekräftiger ist der etwa 5%ige Anstieg der Suizide, den amerikanische Forscher während der Wirtschaftskrise 2008 beobachteten. Allerdings zeigte sich damals auch, dass stärkere Sozialsysteme die wirtschaftlichen und psychischen Folgen derartiger Krisen anscheinend erheblich besser abfedern können: In Österreich kam es im selben Zeitraum zu einer Abnahme der Suizide.

Welche Daten liegen bisher für die aktuelle Pandemie vor? „Klar ist, dass die Pandemie auch massive Auswirkungen auf die Suizidprävention hat“, erklärt Assoc.-Prof. PD Dr. Thomas Niederkrotenthaler, stellvertretender Leiter der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien. Wie auch im österreichischen Suizidpräventionsplan SUPRA festgehalten, ist die Mittelrestriktion eine der wichtigsten Maßnahme in der Suizidprävention. Hier zeichnen rezente Daten aus den USA ein beunruhigendes Bild: Die Opioidkrise und Suizide sind die beiden Hauptgründe dafür, dass die Lebenserwartung in den USA seit einigen Jahren im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern nicht zu-, sondern abnimmt. In der ersten Phase der Pandemie kam es nun zu einem massiven Anstieg der Opioid-Vergiftungen (darunter natürliche auch Suizide). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei einem anderen beliebten Suizidmittel, den Schusswaffen: „Auch hier sind die Verkäufe in den USA auf einem hohen Niveau startend noch weiter angestiegen“, so der Public-Health-Experte. Anlass zur Sorge gibt, dass auch in Österreich die Schusswaffenverkäufe während der Pandemie zugenommen haben. Dass die Verbreitung von Schusswaffen tatsächlich auch Auswirkungen auf Schusswaffensuizide hat, belegte eine WWTF-geförderte Studie von Nestor Kapusta im Jahr 2007: Österreich hatte bis in die späten Neunzigerjahre ein für europäische Verhältnisse relativ lockeres Schusswaffengesetz. Als mit der Einführung eines strengeren Gesetzes viele Schusswaffen retourniert wurden und die Zahl der Schusswaffenlizenzen sank, kam es auch zu einer deutlichen Abnahme der Schusswaffensuizide. Der derzeitige Anstieg der Waffenverkäufe könnte also auch längerfristig negative Auswirkungen haben.

Suizidraten aus 21 Ländern

Anekdotisch gab es schon seit Beginn der Krise in den Medien immer wieder Berichte über einen Anstieg von Suiziden. Lässt sich das auch mit evidenzbasierten Daten belegen? Die bisher größte Studie zu diesem Thema, die Mitte April in Lancet Psychiatry veröffentlicht wurde, widerspricht dieser Einschätzung. Ein Konsortium von mehr als 70 Wissenschaftlern kam nach der Analyse von Daten aus 21 Ländern und Regionen zum Schluss, dass die Suizidrate entweder unverändert geblieben war oder sogar abgenommen hatte. Vor allem in den westlichen Gesellschaften zeigte sich ein relativ homogenes Bild. Zu den zehn Ländern mit einer im Jahr 2020 sogar geringeren Suizidrate gehörte auch Österreich. Mittlerweile liegen bereits die Gesamtzahlen für das Jahr 2020 vor: „Insgesamt wurden im Vorjahr 1.068 Suizide registriert – das waren um vier Prozent weniger als 2019“, berichtet Niederkrotenthaler.

Repräsentative Befragung

Suizide sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs namens „psychische Probleme“. Ein wesentlich differenzierteres Bild der psychischen Situation der österreichischen Bevölkerung in der Pandemie zeigt eine mehrwellige Online-Befragung mit jeweils 1.000 für die österreichische Bevölkerung repräsentativen Personen, die vom Zentrum für Public Health der Med Uni Wien zwischen April und Dezember 2020 durchgeführt wurde. Als Parameter für die psychische Gesundheit wurden Depressivität, Angst, Suizidalität, Alkoholkonsum und Konflikterfahrungen erhoben. Eines der zentralen Ergebnisse der Erhebung war, dass soziodemografisch unterschiedliche Gruppen auch ganz unterschiedlich unter den Folgen der Pandemie litten.

Niederkrotenthaler erläutert das am Beispiel Suizidalität: 39 Prozent der Befragten gaben an, weniger Suizidgedanken als vor der Pandemie zu haben, immerhin 18 Prozent berichteten aber über eine Zunahme der Suizidalität. Ein ganz entscheidender Faktor war dabei das Alter: Bei jüngeren Menschen ergab die Befragung eine deutlich höhere Suizidalität und diese verschlechterte sich durch COVID-19 auch wesentlich häufiger als bei älteren. Dass die Krise für junge Menschen besonders belastend ist, hat unter anderem damit zu tun, das die jüngeren Altersgruppen in der Befragung eine geringere psychische Resilienz zeigten (d.h. mit Schwierigkeiten und Ausnahmesituationen schlechter umgehen können) als ältere Personen. Entsprechend fanden die Untersucher bei Jungen auch mehr Depressivität und mehr Konflikte in der Familie.

Berufliche Risikogruppen

Auch die berufliche Situation spielte eine wichtige Rolle: „Arbeitslose, dauerhaft arbeitsunfähige Menschen sowie Schüler und Studenten berichteten ebenfalls höhere Suizidalität und gaben häufiger eine Verschlechterung während der Pandemie an.“ Gleiches galt für Personen mit psychischen Erkrankungen: Besonders betroffen waren Menschen mit Zwangserkrankungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und sozialen Ängsten. Mutmaßungen, dass Menschen mit sozialen Phobien mit dem Social Distancing besser klarkommen, kann der Sozialmediziner nicht bestätigen: „Das mag für individuelle Fälle gelten, in unseren aggregierten Daten hat sich das aber nicht gezeigt.“ Die Personengruppe, die von allen am häufigsten über eine Verschlechterung der Suizidalität berichtete, waren Menschen, die selbst an COVID-19 erkrankt waren – oder das zumindest glaubten. Jeder Dritte aus dieser Gruppe hatte nämlich keinen Nachweis der Erkrankung. „Wir haben auch gesehen, dass die Annahme, an COVID-19 erkrankt zu sein, stark mit psychischen Vorproblemen assoziiert war.“ Als weitere Risikogruppen für erhöhte Suizidalität, verstärkte Angst und schlechtere psychische Gesundheit erwiesen sich Berufe mit potenziellem Kontakt zu Menschen mit COVID-19 (z.B. Gesundheitsberufe und Handelsangestellte).

Veränderungen über die Zeit

Wenig verwunderlich ist, dass sich die Menschen laut der Online-Befragung in Zeiten des Lockdowns besonders eingeschränkt fühlten und in den Sommermonaten eine deutliche Entspannung zu bemerken war. Bei den psychischen Outcomes stach hervor, dass die häusliche Gewalt nach dem ersten Lockdown deutlich anstieg, dann auf einem hohen Niveau blieb und nach dem zweiten harten Lockdown noch einmal zulegte. Dieses Ergebnis ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Opfer und Täter mehr Zeit miteinander verbrachten und gleichzeitig weniger Austausch mit anderen Personen hatten. Auch die Depressivität nahm im Untersuchungszeitraum zu, vor allem im letzten Erhebungsfenster nach dem zweiten Lockdown. Für Niederkrotenthaler ein deutliches Zeichen eines Ermüdungseffektes. Auf die Suizidalität traf das bemerkenswerterweise nicht zu: Hier fanden die Forscher im zweiten harten Lockdown sogar die geringsten Werte während der gesamten Erhebung!

„Noch haben also die hochausgeprägten Risikofaktoren für Suizidalität nicht auf die Suizide durchgeschlagen“, fasste der Experte die Ergebnisse der Befragung zusammen. „Damit das trotz der schwierigen psychischen Situation auch weiterhin so bleibt, wäre es aus Sicht der Suizidprävention wichtig, jetzt entsprechende Maßnahmen in den Bereichen Arbeitsmarkt und psychosoziale Unterstützung zu setzen.“ Auch die Medien, die in diesem Zusammenhang während der Pandemie nicht immer eine glückliche Rolle spielten, nimmt Niederkrotenthaler in die Pflicht: Sensationsträchtige Schlagzeilen wie „Suizidwelle in Italien“ (hat in Wirklichkeit nicht stattgefunden) oder „Mysteriöse Stürze aus Spitalsfenster“ sind wegen möglicher Imitationseffekte (in der wissenschaftlichen Literatur auch als „Werther-Effekt“ bezeichnet) aus Sicht der Suizidprävention problematisch. Wenn hingegen Bewältigungsstrategien für suizidale Gedanken thematisiert werden, können Medien auch eine positive Wirkung haben (Papageno-Effekt). Beispiele dafür sind Artikel, die mit „Reden rettet Leben“ oder „Kontakt bieten in Zeiten des Distanzhaltens“ betitelt sind.

In der Diskussion seines Vortrags hält Niederkrotenthaler fest, dass sich aus der Befragung nicht ableiten lässt, ob die psychischen Belastungen eher auf die vom Gesetzgeber verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder die Erkrankung selbst zurückzuführen sind. Anekdotische Berichte aus Ländern, in denen deutlich weniger Restriktionen erlassen wurden (z.B. Brasilien), ließen aber nicht darauf schließen, dass dort die psychische Situation weniger angespannt sei. Und auch wenn Gegenstimmen manchmal besonders laut zu hören sind: Zu jedem Zeitpunkt der Erhebung gab eine deutlich Mehrheit der Befragten an, die Social-Distancing-Maßnahmen und anderen Restriktionen als adäquat zu empfinden. Außerdem wurden auch Maßnahmen getroffen, von denen anzunehmen ist, dass sie positive Auswirkungen auf den psychischen Bereich haben. Niederkrotenthaler verweist auf den Ausbau der telefonischen Beratung, das Angebot, Psychotherapie auf Krankenschein über Skype zu erhalten, und Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt, die zur Existenzsicherung beigetragen haben.

„Psychische Belastungen durch die Pandemie“, 21. Jahrestagung der österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP), virtuell, 23.4.21

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy