7. Juni 2021Mythos kardiale Demenz

Degenerative Prozesse in Herz und Hirn beeinflussen sich gegenseitig

Ein großer Teil der Demenzen lässt sich auf vaskuläre Risikofaktoren zurückführen. Dennoch existiert keine exklusive kardiale Demenz, betont ein Neurologe. Vielmehr entwickeln Herzkranke klar definierte neurokognitive Störungen, die klassifiziert werden müssen.

Figur des Mannes mit Gehirn und rotem Herzen. Liebe und Intelligenz.
iStock/Andrii Zastrozhnov

Neurokognitive Störungen treten u.a. bei Patienten mit Herzinsuffizienz gehäuft auf. Der kausale Zusammenhang liegt in diesem Fall nahe: Die Ejektionsfraktion sinkt, dadurch nimmt die zerebrale Perfusion ab und es entstehen chronische Ischämien, die wiederum die kognitiven Defizite bedingen. „Hinter diese monofaktorielle Betrachtung kam in den letzten Jahren ein Fragezeichen“, sagte Prof. Dr. Matthias Sitzer von der Klinik für Neurologie am Klinikum Herford. Die Interaktionen sind offenbar deutlich komplexer (s. Kasten unten), weshalb man inzwischen von einer Herz-Hirn-Achse spricht.

Wichtig für die klinische Praxis: Die neurokognitiven Probleme von Herzpatienten fußen auf bekannten Demenzsyndromen oder auf einer Kombination aus verschiedenen Entitäten. Dabei dominieren Alzheimer-Demenz, small vessel disease, zerebrale Amyloidangiopathie sowie Multi-Infarkt-Demenz. Bei einer Hypertonie beispielsweise finden sich vorwiegend die drei Erstgenannten. Da die Unterscheidung dieser Störungen durchaus therapeutische Konsequenzen hat, kommt man nicht um einen kleinen Ausflug in die Neurologie herum.

Prädisponierend für eine Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) wirken Lifestyle-, vaskuläre und genetische Faktoren wie bestimmte ApoE-Genotypen. ApoE-Polymorphismen beeinflussen das Demenzrisiko auch exklusiv bei Herzinsuffizienten, betonte Prof. Sitzer. Entwickeln Vorhofflimmerpatienten eine neurokognitive Störung, handelt es sich in 75 % der Fälle um eine DAT und nicht – wie man bei der Arrhythmie vielleicht erwarten würde – um eine Multi-Infarkt-Demenz. Laut dem Kollegen deutet dies darauf hin, dass degenerative Vorgänge in beiden Organen gleichzeitig ablaufen. Für die DAT steht eine effektive symptomatische Therapie zur Verfügung.

Bei der small vessel disease führt die Schädigung von mikrovaskulären Arterien zu einer chronischen Minderperfusion insbesondere im Bereich des Marklagers. Die Veränderungen präsentieren sich im MRI als sogenannte Leukaraiosis (synonym gebraucht: white matter hyperintensities). Das Gesamtbild kann sich zusammensetzen aus subkortikalen lakunären Infarkten, zerebralen Mikroblutungen und fatalen Hämorrhagien.

Eine therapeutische Relevanz für Kardiologen ergibt sich womöglich bei mehreren Mikroblutungen. Denn unter Plättchenhemmung und/oder oraler Antikoagulation steigt das Hämorrhagierisiko, erinnerte Prof. Sitzer. Mikroblutungen im MRT erfüllen allerdings eher eine Warnfunktion. Letztlich gilt es abzuwägen, was akut und binnen der nächsten Monate im Vordergrund steht. Zum Beispiel braucht ein ACS-Patient mit frischem Stent eine adäquate evidenzbasierte Medikation über einen bestimmten Zeitraum.

Die zerebrale Amyloidangiopathie (CAA) stellte der Kollege vereinfacht als „Demenz vom Alzheimer-Typ, nur bezogen auf die Blutgefäße“ dar. In den pialen Arteriolen lagern sich erhebliche Mengen von Beta-Amyloiden ab. Die Peptide werden auch über die CAA hinaus als Schlüsselproteine der Herz-Hirn-Achse gehandelt. Sie spielen u.a. eine Rolle in der Entwicklung atherosklerotischer Plaques. Bei der CAA resultiert eine funktionelle Instabilität der Gefäße mit Blutungen und Vaskulitis. Eine effektivitätsgeprüfte Therapie gibt es nicht. Das Vermeiden von gerinnungsaktiven Substanzen erscheint sinnvoll, ist bei einigen kardialen Leiden jedoch schwer umzusetzen.

Wie kommt man all diesen Syndromen nun auf die Schliche? Verdacht schöpfen und screenen, lautet die Devise für Nichtneurologen. Die differenzierte neuropsychologische Testung übernimmt das entsprechende Fachpersonal. „In der Regel klagen Patienten von selbst über Gedächtnisstörungen“, so die Erfahrung von Prof. Sitzer. Ein typisches Szenario: Der Betroffene berichtet, dass er mit dem Auto anhalten und sich etwas orientieren musste, weil er den Weg nach Hause kurz vergessen hatte. Mitunter fallen die Symptome auch den Angehörigen auf.

Pathophysiologie: kreuz und quer statt geradeaus

Man muss der Herzinsuffizienz definitiv eine kausale Rolle bei der Entwicklung einer Demenz zugestehen, sagte Prof. Sitzer. Unter anderem korreliert das Ausmaß der Pumpschwäche mit der Ausprägung der neurokognitiven Störung. Umgekeht wirken sich kognitive Defizite negativ auf den Verlauf der Herzerkrankung aus: Die Mortalität steigt, es gibt mehr Rehospitalisierungen und die Medikamentenadhärenz sinkt.

Schaut man sich die Hirnstruktur von betroffenen Herzinsuffizienten an, finden sich Marklagerschäden. Dabei besteht eine Assoziation zwischen NT-proBNP und den Läsionen. Patienten haben vermehrt lakunäre Hirninfarkte, bei einer akuten kardialen Dekompensation auch kortikale (prothrombotischer Effekt?). Zudem kann eine progrediente temporomesiale Atrophie als bildmorphologisches Korrelat der DAT vorliegen. Die strukturellen Veränderungen des Gehirns münden also in small vessel disease und Multi-Infarkt-Demenz, zudem tritt eine Demenz vom Alzheimer-Typ gehäuft auf.

Interessant ist, dass Herzinsuffizienzpatienten nur eine geringfügige globale Verminderung der Hirnperfusion zeigen. Pathophysiologisch relevanter scheint das Zusammenspiel zwischen zerebraler Autoregulation und Blutdruckschwankungen. Die Störung der dynamischen regionalen Perfusionsanpassung spielt laut Prof. Sitzer eine zentrale Rolle. Die Abstimmung funktioniere nicht mehr so gut, weil sowohl Gehirn als auch Herz geschädigt werden.

Mindestens eine kognitive Domäne eingeschränkt

Viele Herzkranke leiden unter einem milden kognitiven Defizit. Im Gegensatz zu physiologischen Veränderungen im Alter lässt sich dieses gut definieren. Dazu muss man wissen, dass höhere Hirnleistungen in sechs Hauptdomänen eingeteilt werden: komplexe Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptuell-motorische Fähigkeiten sowie soziale Kognition. Ein mildes Defizit liegt vor, wenn mindestens eine dieser Domänen eingeschränkt funktioniert, der Patient im Alltag aber keine wesentlichen Einbußen spürt.

Neurokognitive Screenings helfen, zwischen normalem und auffälligem Befund zu unterscheiden. Der bekannte Mini-Mental-Status-Test eignet sich bei kardialen Grunderkrankungen eher weniger. Er erfasst nicht alle Domänen lückenlos, erklärte der Neurologe. Gerade die für ein mildes kognitives Defizit typischen Gedächtnisstörungen werden dadurch unzuverläßig aufgedeckt. Prof. Sitzer empfahl stattdessen den MoCA*-Test, da dieser die Hirnleistungen besser abbildet bzw. abfragt.

Beim Screening zählt das Timing. Es bringt nichts, den MoCA-Test im Rahmen einer akut dekompensierten Herzinsuffizienz durchzuführen. Der Patient sollte entspannt sein. Und am besten verlässt der Arzt den Raum. Laut dem Kollegen kann eine angelernte nichtärztliche Person das Assessment mit hoher Retest-Wahrscheinlichkeit ebenso begleiten. Die Person sollte eine sehr ruhige Atmosphäre erzeugen können, damit der Getestete nicht das Gefühl hat, unter einem Leistungsdruck zu stehen.

Prävention steckt in der Therapie mit drin

Bluthochdruck im mittleren Lebensabschnitt, Diabetes, Rauchen – all das erhöht das Demenzrisiko um etwa 60 %. Eine Studie zur Herzinsuffizienz kommt auf den gleichen Wert, bei Vorhofflimmern und KHK sind es jeweils mehr als 40 %. Zudem kann eine arterielle Hypotonie im hohen Lebensalter mit kognitiven Einbußen einhergehen (Odds Ratio 2,4). Mehr als doppelt so hoch ist die Gefahr auch, wenn ein Vorhofflimmerpatient einen Schlaganfall erleidet.

Einige der jeweiligen Therapien wirken in gewisser Weise demenzpräventiv:

  • 20 % geringeres Risiko durch antihypertensive Behandlung (insbesondere für DAT), unabhängig von der eingesetzten Medikamentengruppe
  • Schulungs- und Trainingsprogramme bei Herzinsuffizienz haben positive Effekte auf kognitive Funktionen, ebenso die Gabe von Renin-Angiotensin-Hemmern (CAVE: Hypotonie im hohen Alter, s.o.)
  • bei Vorhofflimmern senkt die orale Antikoagulation (v.a. mit NOAK) das Risiko deutlich, zudem scheint eine Rhythmuskontrolle mittels Ablation das Gehirn zu schützen

* Montreal Cognitive Assessment

16. DGK-Kardiologie-Update-Seminar (Deutsche Gesellschaft für Kardiologie)

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune