Arbeitszeugnisse: Geheime Codes für Kompetenz

Arbeitszeugnisse verfügen über eine eigene Form der Sprache. Ihre Interpretation braucht Fantasie. Wir zeigen, worauf Sie dabei achten sollten.

Die Mitarbeiter:innsuche ist nicht einfach – schon bei den Bewerbungsunterlagen gilt es zwischen den Zeilen zu lesen.

Leider ist die Problematik der Mitarbeiter:innensuche unter niedergelassenen Ärzt:innen keine Seltenheit. Die Fluktuation unter Arzthelfer:innen ist aufgrund von Schwangerschaften, Erziehungspausen und normalem Jobwechsel verhältnismäßig hoch. Für den Arzt oder die Ärztin bedeutet dies jedes Mal, mit der Einarbeitung aufs Neue zu beginnen: ein zeitraubendes, teures und auch lästiges Unterfangen. Wer erst in der Probezeit oder noch später feststellt, dass der/die neue Mitarbeiter:in an der Rezeption zwar fachlich geeignet, aber höchst unzuverlässig und demotiviert ist, hat den Zeitaufwand für das Bewerbungsprozedere in den Sand gesetzt.

Der gesamte Suchprozess beginnt von vorn. Darum sollten Arbeitsplatzanforderungen und Qualifikationsprofil weitgehend übereinstimmen. In einer ersten Analyse helfen die Bewerbungsunterlagen, die eine Vorselektion erlauben. Arbeitszeugnissen kommt in dieser Phase eine entscheidende Bedeutung zu: Wenn sich Bewerber:innen gleich gut präsentieren, wird jene zum Gespräch geladen, die über die aussagekräftigeren Referenzen verfügt. Dabei sind derartige Arbeitszeugnisse ein leidiges Thema: Unter Personalchefs hat sich eine „Geheimsprache“ etabliert, die Branchenfremden verborgen bleibt. Für die richtige Vorselektion der Bewerber:innen – die Entscheidung muss im persönlichen Gespräch fallen – macht es Sinn, sich mit den feinsinnigsten Zwischentönen der deutschsprachigen Arbeitswelt vertraut zu machen.

Interpretationsspielraum

Die sogenannte Zeugnissprache ist Folge der gesetzlichen Vorgabe des Arbeitnehmer:innenschutzes, die Arbeitgeber:innen verpflichtet, das Zeugnis nicht nur der Wahrheit entsprechend, sondern auch mit „verständigem Wohlwollen“ abzufassen. Er soll Arbeitnehmer:innen das berufliche Fortkommen nicht ungerechtfertigt erschweren und ihm eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben. Unter diesen Vorgaben entwickelte sich eine Form der Leistungsbeurteilung, die zwischen „hervorragend“ und „nicht schlecht“ alle Schattierungen des menschlichen Verhaltens umschreibt. Dabei gibt es keine absolut gültigen Vorgaben. Nicht alle Arbeitgeber:innen verwenden bewusst Redewendungen, die in den Raster der Zeugnissprache passen. Aber es hilft, wenn ein Sensorium für derartige verklausulierte Entscheidungshilfen entwickelt wird.

  • Das Billiard-Prinzip: Die Wertung von Arbeitszeugnissen wird oftmals verschlüsselt abgegeben. Meinungen werden erst erkennbar, wenn man über mehrere Ecken liest bzw. feststellt, was alles nicht erwähnt oder weggelassen wurde.
  • Die Positivskala: Bekanntestes Beispiel für die Positivskala ist die Leistungszusammenfassung mit dem Grad der Zufriedenheit (z.B. „Er hat alle Aufgaben zu unserer Zufriedenheit ausgeführt“, Note 4 – genügend), die durch Einschränkungen nach unten erweitert werden kann (z.B. „Er hat alle Aufgaben im Allgemeinen zu unserer Zufriedenheit erledigt“, Note 5). Aber auch das Engagement kann „im Großen und Ganzen hoch“ gewesen sein, ebenso wie die Arbeitsweise vielleicht nur „in der Regel zuverlässig“ war oder ein Beurteilter „bemüht war, Zielvorgaben zu erfüllen“.
  • Die Leerstellentechnik: Auf eine zu erwartende Aussage wird verzichtet, z.B. „Das Verhalten gegenüber Kollegen war einwandfrei“. In dem Satz fehlen die Vorgesetzten. Das Verhalten gegenüber den Teamleiter:innen wird durch Nichterwähnung bemängelt.
  • Die Negationstechnik: Während im normalen Sprachgebrauch eine doppelte Verneinung die Aussage verstärkt (z.B. „nicht unerheblich“ = wichtig), bewirkt sie in der Zeugnissprache eine Abwertung. Gab das Verhalten eines Beurteilten etwa „keinen Anlass zu Beanstandungen“, dann war es auch nicht gerade lobenswert.
  • Die Passivierungstechnik: Aussagen wie „Aufgaben, die ihm übertragen wurden, führte er zielstrebig aus“ verweisen auf mangelnde Eigeninitiative.
  • Die Ausweich-Technik: Unwichtiges und Selbstverständliches wird gegenüber den wirklich wichtigen Aussagen hervorgehoben, z.B. die „vorbildliche Pünktlichkeit“ eines Managers.
  • Die Widerspruchstechnik: Wenn bestimmte Zeugnisaussagen im Widerspruch zueinander stehen, hebt dies den positiven Eindruck auf. Wenn einem Mitarbeiter/einer Mitarbeiterin sehr gute Leistungen bescheinigt werden, der Zeugnisaussteller ihm/ihr aber weder dankt, noch sein Ausscheiden bedauert, ist das widersprüchliche Zeugnis vermutlich Ergebnis einer Nachverhandlung, bei der nicht alle wesentlichen Aussagen aufgewertet oder ergänzt wurden.

Humor der Personalchefs

Wer die Aussagekraft eines Arbeitszeugnisses ausreizen will, muss das Gras wachsen hören. Dazu ein Beispiel: Ein Bonmot unter Personalchefs verweist auf die hintergründige Formulierung: „Er stand stets voll (!) hinter uns.“ Ob dieser Code für Trunksucht in der Personalbranche zur Gänze verstanden wird, ist allerdings nicht gesichert. Daher dürfen Arbeitszeugnisse nicht überbewertet werden. Aber sie liefern einen auf jeden Fall einen ersten Anhaltspunkt, ob sich ein Gespräch lohnt.

Vier Checkpoints für ein Zeugnis

  • Formale Kriterien: Ist das Arbeitszeugnis auf Firmenpapier gedruckt? Enthält es alle wesentlichen Formalitäten wie Datum oder Unterschrift?
  • Kompetenzen des Bewerbers: Bestätigen die Aussagen im Zeugnis die gesuchten Qualifikationen des Bewerbers/der Bewerberin aus der Stellenanzeige?
  • Abgleich mit dem Lebenslauf: Decken sich die Zeitangaben und Aufgabenbeschreibungen im Arbeitszeugnis mit denen im Lebenslauf?
  • Leistungen im Zeitverlauf: Werden die Beurteilungen im Laufe der Zeit besser oder schlechter? Insbesondere: Wie hat sich der/die Kandidat:in im Verlauf der jüngsten drei Arbeitszeugnisse entwickelt?

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune