22. Aug. 2019

„Versorgung sticht Therapieabbruch“

Eine hochkarätige Expertenrunde diskutierte im Rahmen der Gesundheitsgespräche über Sicherheit und Freiheit in der Apotheke. Vorherrschendes Thema waren die europaweiten Lieferengpässe bei Medikamenten.

„Freiheit und Sicherheit“ lautete das Generalthema des Europäischen Forum Alpbach 2019, in dessen Rahmen von 18. bis 20. August die Gesundheitsgespräche stattfanden. Auch die Österreichische Apothekerkammer widmete sich in einer hochkarätigen Diskussionsrunde dem Thema „Sicherheit als Geschäftsmodell in der Apotheke“. Gastgeberin Apothekerkammerpräsidentin Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr hat dafür die Experten Dr. Clemens Martin Auer, Sonderbeauftragter für Gesundheit des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Dr. Christa Wirthumer-
Hoche, Leiterin der AGES Medizinmarktaufsicht/BASG, und Ex­trembergsteiger Prof. Peter Habeler aufs Podium gebeten.

Von oben betrachtet

Habeler, der anno 1978 mit Reinhold Messner erstmals den Mount Everest ohne Sauerstoffgerät bezwungen hatte, eröffnete die Diskussion mit einem Perspektivenwechsel. Freiheit gebe es in der Natur zwar reichlich, aber auch die sei nicht grenzenlos. Sicherheit wiederum sei für einen Extrembergsteiger ein holpriger Begriff, weil diese nicht wirklich zu gewährleisten sei. Wichtig wären gute Vorbereitung, und, wie im Gesundheitssystem auch, funktionierende Teamplayer, auf die man sich verlassen könne.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Auer, der ein Ende des wechselseitigen Fingerzeigens zugunsten eines neuen Verständnisses von Partnerschaft zwischen öffentlichen
Gesundheitssystemen und der Pharma­industrie fordert. „Das Problem der Subsidiarität kann die Apothekerkammer allein nicht lösen, so sind die Apotheker das letzte Glied in der Kette im Gesundheitssystem“, so der Experte. Nur durch eine Entkrampfung der Diskussion auf Metaebene können, laut Auer, bereits bestehende Lieferengpässe und ein drohendes Versorgungsproblem gelöst werden.

Die Freiheit der Industrie

Lieferengpässe sind für Wirthumer-­Hoche mittlerweile Teil der täglichen Arbeit. Schließlich seien insgesamt 300 von 7.000 zugelassenen Produkten in Österreich nicht lieferbar. „In der Praxis heißt das, viele Telefonate zu führen, um herauszufinden, wie lange die Lieferengpässe bei einem Arzneimittel anhalten werden oder ob diese in anderen Ländern noch erhältlich sind. Wir als Behörde sind dafür da, Arzneimittel zu prüfen und sicherzustellen, dass hochwertige Produkte zum Patienten kommen, können aber auch nicht garantieren, dass sie produziert werden.“
Lieferengpässe hätten laut Wirthumer-Hoche unterschiedliche Ursachen, wobei eine davon die „Freiheit der Industrie“ sei. Fusionierungen hätten beispielsweise zur Folge, dass Produktpaletten bereinigt würden und man von mehreren gleichen Produkten auf ein einziges reduziert. Hinzu kommt, dass große Unternehmen wegen mangelnder Rentabilität Generika abstoßen oder die Produktion nach Indien oder China auslagern. Die In­spektion vor Ort sei schwierig, die Qualität sinke. Für Wirthumer-­Hoche bleiben die Fragen: Ist die Freiheit der Industrie, ihren Produktionsstandort zu wählen, es uns wert, dass wir gegebenenfalls die Sicherheit einbüßen, dass Arzneimittel hoher Qualität verfügbar sind? Und wäre es möglich, Europa als Produktionsstandort vorzuschreiben – oder Anreize zu schaffen, um den europäischen Wirtschaftsstandort weiterhin attraktiv zu gestalten? Als wichtigste Maßnahme, Lieferengpässe in den Griff zu bekommen, ortet Wirthumer-­Hoche eine Erhöhung der Transparenz, nämlich bei den Distributionswegen und den Berechnungen des Medikamentenbedarfs für den österreichischen Markt.
Schließlich sei die Industrie verpflichtet, diesen Bedarf für ein Land zur Verfügung zu stellen. Wie dieser berechnet wird, ist jedoch selbst der Medizinmarktaufsicht unklar. Nicht verpflichtet wiederum sei die Industrie, wenn es um die Meldung von Lieferengpässen geht, es sei denn, ein Qualitätsproblem verursacht den Engpass.

Datenbank für Lieferengpässe

Langfristiges Ziel sei laut Wirthumer-Hoche eine Masterdatenbank, die jeder einsehen kann und in der verpflichtend gemeldet wird, wenn ein Medikament nicht lieferbar ist, und auch, wenn der Bedarf in Österreich nicht gedeckt werden kann. Wirthumer-Hoche geht davon aus, dass die verpflichtende Meldung mit der nächsten Novelle im Arzneimittelgesetz verankert wird.
Apothekerkammerpräsidentin Mursch-Edlmayr begrüßt die Einführung einer transparenten Datenbank, nichtdestotrotz brauche es kurzfristig eine einfache Lösung, um eine flächendeckende Versorgung in Österreich zu gewährleisten. „Wir sind das Endglied der Lieferkette, stehen aber gleichzeitig
am Anfang, weil wir direkt am Patienten sind.“ Dem Bürger sei es letztendlich egal, was sich hinter den Kulissen abspielt. Er erwartet sich, gut versorgt zu werden.
Mursch-Edlmayr betonte erneut die Arbeitslast, die Apothekern mittlerweile durch die Situation entsteht: Lieferengpässe passieren schließlich kurzfristig und die Zeit, die für die Recherche zur Beschaffung des Medikaments aufgewendet wird, kann in manchen Fällen bis zu zwei Stunden betragen. „Gerade deshalb muss die Apotheke die Möglichkeit haben, Medikamente generisch auszutauschen“, erklärte die Apothekerkammerpräsidentin. So seien bei 50 relevanten Produkten 45 generisch substituierbar. Der Patient versteht nicht, warum er wieder in die Ordination zurück muss, um das Rezept umzutauschen. „Hier hat der Arzt zwei Möglichkeiten: Entweder er setzt das Medikament ab oder er stellt auf ein anderes Produkt um.“ Letzteres sollte auch Apothekern ermöglicht werden, fordert Mursch-Edlmayr, denn: „Ober sticht Unter, Versorgung sticht Therapieabbruch.“