30. Jän. 2019Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreichs

Das Mikrobiom der Blase

Dass Harn nicht steril ist, weiß man bereits seit einigen Jahren. Weniger bekannt ist, dass auch bestimmte Laktobazillen in der gesunden Blase vorkommen. Daraus ergibt sich ein möglicher therapeutischer Nutzen, etwa beim rezidivierenden Harnwegsinfekt, stellte Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Umek im Rahmen der MKÖ-Jahrestagung in Linz zur Diskussion.

Wurden früher Mikrobiota wie Bakterien, Viren, Pilze prinzipiell als pathogen angesehen, die es zu eradizieren gilt, sieht man heute den Menschen als Ökosystem, in dem „Gast“ und „Wirt“ oftmals eng zusammenarbeiten und voneinander profitieren. Diese Änderung des Verständnisses führt Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Umek, Leiter der Uro-gynäkologischen Ambulanz, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Wien, in erster Linie auf die technische Entwicklung in puncto Erregerbestimmung zurück. „Die Methodik beeinflusst das Ergebnis“, so Umek, „je nach Abnahme – Spontanharn, Mittelstrahlharn, Katheter, Punktion –, Routine-Kultur, erweiterter Kultur oder 16S-rRNA-Sequenzierung.“

Bei Standard-Kulturmethoden gebe es eine Falsch-Negativ-Rate von bis zu 90 Prozent, insbesondere ohne Absprache mit dem Labor. Genauere Ergebnisse hinsichtlich der Urinmikrobiota liefere eine „enhanced quantitative urine culture“ (EQUC), eine neue Technik für Urinkulturen, mit der viele durch 16SrRNA-Sequenzierung identifizierte Urinmikrobiota kultivierbar sind.1,2,3,4 16S ist laut Umek eine spezielle Stelle im Genom, die sich entwicklungsgeschichtlich praktisch nicht verändert hat, also auch für Gen-Scheren leicht erkennbar ist. Umek: „Daher kann man quasi das, was hinter dieser 16S-Struktur hängt, phylogenetisch gut analysieren.“

Der Nachteil dieser kostengünstigen und schnellen Methode: Eine Differenzierung zwischen vitalen und abgestorbenen Bakterien bzw. Bakterienfragmenten ist damit nicht möglich. Die 16S-rRNA-Sequenzierung wurde in großem Stil für das „Human Microbiome Project“ (HGP) eingesetzt. Die erste Phase (2007–2014) kategorisierte das menschliche Mikrobiom von Nase, Ohr, Mund, Vagina, Darm. In einer zweiten Phase (2014–2016) ging es um die klinische Anwendbarkeit für Schwangerschaft und Frühgeburt, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2. „Das Mikrobiom des Harntrakts war leider nicht dabei“, so Umek. Dennoch dürften die Erkenntnisse aus dem HGP auch für das Blasenmikrobiom relevant sein.

Core microbiome

Das Verhältnis von Bakterien zu menschlichen Zellen beträgt in etwa 1:1. Mit dem Mikrobiom gemeinsam weise der Mensch mit seinen 23.000 Genen insgesamt drei Millionen Gene auf, „die für uns und zu unserem Wohl arbeiten“. Von 100 Bakterienstämmen sind vier für den Menschen relevant und kommen bei allen Menschen vor: Actinobacteria, Bacteroides, Firmicutes und Proteobacteria. Dieses „core microbiome“ verändert sich mit dem Lebensalter. Noch sei es jedoch nicht möglich zu sagen, welches Mikrobiom spezifisch z.B. für einen gesunden 50-jährigen Menschn ist. „Auch ist es nicht möglich, anhand des Mikrobioms geschlechtsspezifische Unterschiede zu differenzieren“, betonte Umek.

Gesunde Blase

Im Blasenmikrobiom gesunder, asymptomatischer Menschen5,6 finden sich neben Laktobazillen Corynebacterium spp., Streptococcus spp., Actinomyces spp., Staphylococcus spp., Aerococcus spp., Bifidobacterium spp., Ureaplasma spp. und Actinobaculum spp. Zu den Mikroorganismen des gesunden Harns zählen darüber hinaus auch Gardnerellen, „ein Befund, bei dem sicher viele automatisch ein Antibiotikum verordnen“, so Umek über diesen häufigen Erreger der bakteriellen Vaginose. „Wir wissen heute, dass der Harn von Frauen einen stärker heterogenen Mix an Mikrobiota aufweist als jener von Männern“, so Umek. Dennoch könne man auch hier nicht von einem geschlechtsspezifischen Mikrobiom sprechen. Als mögliche Funktionen dieser Vielzahl an Bakterien führte Umek an, dass diese als protektive Barriereschicht sowie zur Verhinderung von Anlagerung pathogener Keime, zur Produktion antimikrobieller Stoffe und zur Stimulation der Immunabwehr gegen pathogene Keime dienen könnten. Auch eine Rolle in der Entstehung eines intakten Urothels sei denkbar, insgesamt gebe es aber noch viele Fragezeichen.

Erkrankte (nicht infektiöse) Blase

Im Zusammenhang mit Mikrobiom und überaktiver Blase (over active bladder, OAB) sei es laut Umek überaschend, „dass unsere gängige Definition der OAB die Infektion immer noch ausschließt“. Eine Studie von Pearce et al.7 mit über 100 Frauen mit OAB (16S-rRNA-Sequenzierung und Kulturen) zeigte jedoch folgende Ergebnisse: Etliche Bakterienarten fanden sich bei Gesunden gar nicht (z.B. Actinobaculum, Actinomyces). Andere wiederum kamen häufiger bei OAB als bei Gesunden vor, z.B. Gardnerella vaginalis. Bemerkenswert sind laut Umek auch die Unterschiede in Bezug auf Laktobazillen: „Lactobacillus crispatus kommt bei gesunden Menschen weit häufiger vor als bei Erkrankten, bei Lactobacillus gasseri ist es aber genau umgekehrt.“ Unterschiede zeigen sich auch im Ansprechen auf die Therapie, zitierte Umek eine weitere Studie8: Das Ansprechen auf Solifenacin zeigt eine Beziehung zum prätherapeutischen Mikrobiom im Harn.

Jene, die das höchste Bakterien-Artenspektrum im Harn aufwiesen, sprachen nicht auf die Solifenacin-Therapie an – Umek: „Ein interessantes Ergebnis“. Bei einer anderen nicht infektiösen Blasenerkrankung, der interstitiellen Zystitis (Bladder-Pain-Syndrom), belegte eine Studie von Siddiqui et al.9: einen größeren Anteil an Laktobazillen bei Erkrankten im Vergleich zu Gesunden. In Bezug auf das Blasenmikrobiom weisen Daten auch auf einen möglichen therapeutischen Nutzen, insbesondere von Laktobazillen bei HWIs hin: In einer Studie10 wurde Lactobacillus crispatus vs. Placebo bei rezidivierendem HWI eingesetzt (n=100). „Die Erfolgsrate war hoch“, berichtete Umek. Nur 15 vs. 27 Prozent hatten nach zehn Wochen einen neuerlichen HWI. Ergebnisse rezenterer Studien seien aber noch ausständig.

Referenzen

1 Siddiqui H et al., BMC Microbiol 2011; 11:244;
2 Hilt EE et al., J Clin Microbiol 2014; 52(3):871–76;
3 Wolfe AJ et al., J Clin Microbiol 2012; 50(4):1376–83;
4 Wolfe AJ et al., Eur Urol 2015; 68(2): 173–74;
5 Fouts DE et al., J Translat Med 2012; 10:174;
6 Karstens L et al., Front Cell Infect Microbiol 2016; 6:78;
7 Pearce MM et al., MBio 2014; 5(4):e01283–14;
8 Thomas-White K et al., IUJ 2015; k.A.;
9 Siddiqui H et al., BMC Microbiol 2012; 12:205;
10 Stapleton AE et al., Clin Infect Dis 2011; 52(10):1212–17

Wissenschaftliche Vorträge im Rahmen der 28. Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreichs (MKÖ), Linz, 12.–13.10.18

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum uro&gyn