5. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

„Ersatzteile besser als biologisches Original“

Digitalisierung, Alterung der Gesellschaft, Biotransformation und Gesundheitsexpansion lauten die Megatrends, die das Gebiet der Medizin in den kommenden Jahren prägen werden. Ein Gespräch mit dem Schweizer Zukunftsforscher Georges T. Roos. (Medical Tribune 26/18)

Zukunftsforscher Georges T. Roos referierte im März auf dem 15. Forum Hospital Management in Wien.

Zukunftsforscher beschäftigen sich mit Megatrends, also langfristigen Entwicklungen, die für alle Bereiche der Gesellschaft prägend sind. Welche sind denn die Megatrends, die sich stark auf dem Gebiet der Medizin auswirken werden?

Roos: Da gibt es mehrere. Einer davon ist die Gesundheitsexpansion, also ein weltweit wachsender Markt für Gesundheitsdienstleistungen. Laut einer Prognose aus Deutschland werden sich die weltweiten Umsätze auf den Gesundheitsmärkten bis 2030 vervierfachen. Der zweite Megatrend ist die Alterung der Gesellschaft. Die Menschen werden im Durchschnitt immer gesünder und leben länger. Von diesem demographischen Wandel sind nicht etwa nur Europa und Japan betroffen, sondern die Generation 60plus ist weltweit – mit Ausnahme von Afrika – die am schnellsten wachsende Altersklasse. Schließlich werden für das Gesundheitswesen noch zwei weitere Megatrends eine große Rolle spielen, die ich embryonal nenne, weil noch es sie nicht lange gibt. Der eine ist die Digitalisierung, die eine technische Autonomisierung mit sich bringt: autonome Roboter, das Internet der Dinge und vor allem künstliche Intelligenz. Der andere lautet Biotransformation – ein Upgrade der Biologie.

Welche Folgen bringt die Alterung der Gesellschaft mit sich?

Roos: Eine radikale Umwälzung der Bevölkerungszusammensetzung. Vor 100 Jahren waren die Jungen die größte Bevölkerungsgruppe, was sie heute nicht mehr sind. Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der Durchschnittsmensch nicht einmal 50 Jahre alt, heute wird er 70 und Mitte dieses Jahrhunderts beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 76 Jahre. Aber wir sprechen wohlgemerkt von einer kalendarischen Alterung. Das Durchschnittsalter und die Zahl jener, die ein hohes Lebensalter erreichen, steigen an. Gleichzeitig findet eine biologisch- medizinische Verjüngung statt. Der durchschnittliche 60-Jährige heute ist biologisch-medizinisch jünger als der 60-Jährige vor 20 Jahren. Das heißt, die Erde wird nicht zu einem Planeten voller Greise werden. Natürlich kommt für jeden irgendwann die Phase der Betagtheit, aber zumindest die Zahlen für die Schweiz zeigen: Es kommt trotz Zunahme der Lebenserwartung zu keinem Zuwachs an Jahren der Pflegebedürftigkeit.

Und welche Folgen wird die Digitalisierung haben?

Roos: Die Digitalisierung wird den Gesundheitsbereich grundlegend verändern. Mit dem Sammeln und Auswerten der vorhandenen Gesundheitsdaten werden wir viele neue Entdeckungen machen. Künstliche Intelligenz kann Unmengen an Daten, auch unstrukturierte, analysieren und Schlüsse daraus ziehen. Schon jetzt sind Anwendungen auf Basis von Künstlicher Intelligenz besser imstande, radiologische Bilder auszuwerten als Ärzte. In Deutschland wird an der Universität Marburg Künstliche Intelligenz bereits zur Analyse unerkannter und seltener Erkrankungen eingesetzt. Ich gehe davon aus, dass Künstliche Intelligenz eine massive Unterstützung für die Medizin sein wird, indem sie in der Flut von Daten Muster und Zusammenhänge erkennt, die wir nicht sehen können.

Künstliche Intelligenz wird ja auch für andere Aufgaben eingesetzt: In Großbritannien zum Beispiel propagiert das Nationale Gesundheitsservice NHS eine App, über die die Versicherten mit einem intelligenten Chat-Bot statt mit einem menschlichen Arzt kommunizieren. Wird die Ärzteschaft durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden?

Roos: Das ist möglich, aber nicht wünschenswert. Denn das persönliche Verhältnis von Patient und Arzt ist ein wichtiger Faktor der Heilung. Ein positives Szenario wäre, dass die Ärzte bei der Diagnose und bei der Therapieplanung von diesen mächtigen künstlichen Assistenten unterstützt werden und ihren Fokus mehr auf den gesamten Menschen legen können. Auf jeden Fall aber werden wir alle in zehn Jahren auf unserem Smartphone einen „Smart Doktor“ haben.

Der Trend zur Selbstvermessung mittels Wearables und Gesundheitstrackern sowie der Trend zur Selbstoptimierung: Sind das Teile dessen, was Sie Gesundheitsexpansion nennen?

Roos: Ja, obwohl das vor allem ein Thema in den hochentwickelten Ländern ist. Hier wandelt sich das Paradigma, was die Gesellschaft unter Gesundheit versteht. Noch vor 25 Jahren haben die meisten Menschen in unseren Breitengraden nur an Gesundheit gedacht, wenn sie krank geworden sind. Das war das Zeitalter der Reparaturmedizin. Heute leben wir in einer Gesundheitskultur, das heißt, wir unternehmen nicht nur alles, um Krankheiten zu heilen, sondern versuchen die Gesundheit zu pflegen und zu fördern. Das reicht von den wachsenden Bemühungen zur Gesundheitserziehung an Schulen bis zur Fitness- und Wellnessindustrie. In Zukunft verstehen immer mehr Menschen unter Gesundheit: Wie hole ich optimale körperliche und mentale Leistung aus mir heraus? „Human performance enhancement“ ist Vorbote des neuen Paradigmas. Eine wachsende Zahl von Menschen greift zu verschreibungspflichtigen Medikamenten oder illegalen Drogen, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Und wenn das der natürliche Körper nicht hergibt, dann geht es in Richtung Biotransformation.

Welche Möglichkeiten werden sich uns da bieten?

Roos: Die Verschmelzung von Biologie mit Technologie oder genetisches Editieren. Die CRISPR/Cas9-Genschere ermöglicht es sehr viel einfacher, präziser, sicherer und günstiger, an den Genen Veränderungen vorzunehmen. Die Hoffnungen, die damit verbunden sind, sind extrem: Die Heilung von Erbkrankheiten oder Krebs steht im Raum. Mithilfe von CRISPR/ Cas9 ist es bereits gelungen, aus gewöhnlichen Hautzellen pluripotente Stammzellen herzustellen. In Zukunft könnte es so möglich sein, jedes Organ im Bioreaktor aus der eigenen DNA herzustellen. Andere Upgrades werden nicht biologischer, sondern technischer Natur sein.

Werden wir zu Cyborgs, zu Mischwesen aus Mensch und Maschine?

Roos: Heute werden Ersatzteile bei Menschen mit Defiziten eingesetzt. Aber es wird der Punkt kommen, wo das technische Ersatzteil besser ist als das biologische Original. Im Grunde sind wir bereits so weit: Der unterschenkelamputierte südafrikanische Läufer Oscar Pistorius hat einen juristischen Kampf geführt, um nicht bei den Paralympics, sondern bei den regulären Olympischen Spielen zu starten. Man wollte ihm das zunächst nicht erlauben mit dem Argument, dass seine High-Tech-Prothesen einen unstatthaften Vorteil darstellen. Im Bereich des Kurzstreckenlaufs sind wir also schon so weit, dass das Ersatzteil besser sein könnte als das biologische Original.

Sind sich Mediziner und Verantwortliche im Gesundheitswesen im Klaren über die enormen Veränderungen, die da auf uns zukommen?

Roos: Das ist keine Frage, die nur die Medizin angeht, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Aus meiner Sicht ist es von größter Wichtigkeit, dass eine gesellschaftliche Debatte über diese neuen Möglichkeiten stattfindet: Was wollen wir als Gesellschaft? Wie lassen sich all diese Möglichkeiten einsetzen, dass sie der Menschheit zum Besseren gereichen und nicht zu extremer Ungleichheit und zu gefährlichen Experimenten führen?

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune