9. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Was Werther und Papageno gemeinsam haben

1983 verordnete Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck den österreichischen Medien einen Leitfaden, wie sie mit dem Thema Suizid umgehen sollten. Der Verzicht auf sensationsheischende Berichte hat nachweislich zur Verhinderung von Nachahmungs-Suiziden beigetragen. (Medical Tribune 26/18) 

Diese Seite illustrieren Faksimiles aus österreichischen Tageszeitungen (siehe rechts). Die Schwärzungen hat die Redaktion der Medical Tribune vorgenommen, im Original sind alle Namen voll ausgeschrieben, ebenso alle Ortsangaben. Diese Artikel, ebenso wie andere aus den 1930er bis 1960er Jahren, geben hemmungslos (vermeintliche und vereinfachende) Motive für einen Suizid preis oder lassen bei der Beschreibung des Geschehens kein noch so grausiges Detail unerwähnt. Zugegeben, bei der Beschreibung gewöhnlicher Unfälle gingen die Redaktionen mit der gleichen Methode vor – bei Suiziden liest es sich trotzdem aus heutiger Perspektive noch einmal befremdlicher.

Der Werther-Effekt und ein Leitfaden

1774 veröffentlichte Johann Wolfgang Goethe den Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Es ist die Geschichte einer unerfüllt bleibenden Liebe der Titelfigur, die mit deren Selbstmord endet. Der Roman wurde zum Bestseller und machte den Autor in Deutschland blitzartig berühmt. Schon in den Monaten nach dem Erscheinen des Romans gab es keinen Zweifel daran, dass die Figur des Werther junge Männer zur Nachahmung anregte, nicht nur, aber auch in Bezug auf suizidale Handlungen. Mehrere Städte untersagten den Vertrieb des Romans, darunter Leipzig mit der Begründung, dass „diese Schrift eine Empfehlung des Selbst Mordes“ sei und hielt an diesem Verbot 50 Jahre lang fest.

Trotzdem dauerte es bis 1974, ehe der US-amerikanische Soziologe Dave Philipps den Terminus „Werther-Effekt“ einführte und einen Zusammenhang zwischen der medialen Präsenz von Suiziden Prominenter und der Qualität und Quantität suizidaler Handlungen in der Bevölkerung herstellte. Als in Wien um 1980 in kurzer Folge die ersten drei U-Bahnlinien in Betrieb gingen, vervielfachten sich innerhalb weniger Jahre die suizidalen Handlungen. Von ein bis drei derartigen Ereignissen jährlich zwischen 1979 und 1983 schnellten die Zahlen bis 1986/87 auf den Rekordwert von 15 Suiziden und 13 Suizidversuchen (innerhalb eines Jahres) hoch. Ein Team um den Psychiater und Psychotherapeuten Univ.- Prof. Dr. Gernot Sonneck im Wiener Kriseninterventionszentrum vermutete einen Zusammenhang mit der teilweise sensationsheischenden Berichterstattung in den Medien und arbeitete den – zumindest für den deutschen Sprachraum – ersten „Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid“ aus.

Diese Richtlinien wurden den Medien präsentiert und hatten im doppelten Sinne einen durchschlagenden Erfolg. Innerhalb eines Jahres gingen die U-Bahn- Suizide in Wien auf weniger als ein Viertel zurück und halten sich seither auf einem Niveau, das höchstens 50 Prozent des Rekordjahres erreicht, meist aber deutlich darunter liegt. Dies, obwohl sich gleichzeitig die Fahrgastzahlen mehr als verdoppelten. An diesem Nachweis des Werther- Effekts in der medialen Berichterstattung überraschte die Eindeutigkeit der Ergebnisse. Aus medienkritischer Sicht war (und ist) die vielleicht noch größere Überraschung, dass sich die Medien trotz Boulevardisierung seit 30 Jahren an diese Richtlinien halten. Hin und wieder gibt es schreckliche Ausnahmen, etwa 2005 durch eine Innsbrucker Gratiszeitung, die in martialischer Aufmachung von einem Todessprung in der Innsbrucker Altstadt berichtete oder 2014 bei einem suizidal herbeigeführten Hauseinsturz in Wien – aber im Wesentlichen halten sich alle Medien daran.

Zentrale Inhalte des Leitfadens

Als wichtigste Elemente zur Verstärkung des Imitationseffekts haben Sonneck & Co festgehalten:

  • Erhöhung der Aufmerksamkeit – etwa wenn der Bericht auf der Titelseite erscheint (z. B. bei prominenten Personen), durch sensationserregende Überschriften („Selbstmordserie“) und einen spektakulären Stil in Sprache und Darstellung hervorsticht.
  • Details zur Person (Name, Foto, Lebensumstände, Abschiedsbrief), zur Suizidmethode („starb durch“), zum Suizidort (durch Nennung oder Foto), zur Suizidhandlung (filmische Rekonstruktion des Suizides vor Ort) beziehungsweise zu Suizidforen im Internet (z. B. Bekanntgabe der genauen Adressen)
  • Vereinfachende Erklärungen („Selbstmord wegen Scheidung“)
  • Heroisierung der Person („wählte einen besonderen Tod“)
  • Romantisierung des Suizides („nun ewig vereint“)
  • Interviews mit Angehörigen in der Schockphase

Eine Verringerung des Werther-Effekts ermöglichen zugleich folgende (auszugsweise zusammengefasste) Schwerpunkte:

  • Beschreibung der individuellen Problematik, sorgfältiger Umgang mit Wertungen und sprachlichen Formulierungen
  • Aufzeigen von Alternativen und Lösungsansätzen, etwa durch die Darstellung von Beispielen konstruktiver Krisenbewältigung
  • Ermutigung von Betroffenen, Hilfe anzunehmen, und Nennung professioneller Hilfsangebote
  • Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für die Suizidproblematik
  • Vermittlung der Botschaft, dass Suizidalität oft mit seelischen Krankheiten, vor allem Depressionen, einhergeht und diese behandelbar sind.

Tatsächlich haben über Jahre die Leitlinien des Kriseninterventionszentrums bei vielen Journalisten dazu geführt, Suizide am besten in der Berichterstattung auszusparen, um ja nichts falsch zu machen.

Der Schritt zum Papageno-Effekt

2010 hat daher eine Forschergruppe der Medizinischen Universität Wien unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Thomas Niederkrotenthaler den Begriff „Papageno-Effekt“ kreiert. Angeknüpft wird dabei an der suizidalen Krise von Papageno in Mozarts „Zauberflöte“. Dieser findet einen Weg, Hilfsangebote anzunehmen (die „Drei Knaben“) und entwickelt dadurch neue Energie, sein Ziel (Papagena zu gewinnen) zu verfolgen. Im Wesentlichen greift der Papageno-Effekt die oben genannten Schwerpunkte zur Verringerung des Werther-Effekts auf. Medien aller Art werden dazu angeregt, sich offensiv in ihrer Berichterstattung in die Suizidprävention einzubringen und die Tabuisierung des Themenkomplexes Suizid zu beenden. Tatsächlich haben diese Forschungsergebnisse und Anregungen sich bereits positiv auf die Herangehensweise vieler Medien ausgewirkt.

Wünsche an den Presserat: Mehr Nachdruck

Bereits vor einigen Jahren hat der Österreichische Presserat in seinen Ehrenkodex als zwölften und letzten Punkt die Suizidberichterstattung im Sinne des Leitfadens aufgenommen. Wünschenswert wäre, dass das Selbstregulierungsgremium Presserat von der Erfolgsgeschichte in Sachen Suizidberichterstattung lernt. Denn allem Konkurrenzdenken und der wachsenden Neigung zur populistischen Schreibe zum Trotz wird in diesem Feld bewiesen, dass Medienunternehmen und Journalisten lernfähig und bereit sind, sich an Spielregeln zu halten. Der oft als zahnlos kritisierte Presserat könnte sich große Verdienste um die Gesellschaft erwerben, würde er versuchen, den ethischen Prinzipien seines Ehrenkodex mit mehr Nachdruck zum Durchbruch zu verhelfen. Verhetzung, Rassismus und Sexismus seien hier beispielhaft als drei besonders lohnende Bereiche genannt.

www.kriseninterventionszentrum.at
www.suizid-praevention.gv.at
www.presserat.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune